Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 24. Oktober.

In der französischen Kammer werden die aus dem befreiten Lille nach vier Jahren wieder erschienenen Deputierten feierlichst begrüßt. Sie erzählen von den «deutschen Verbrechen» Haarsträubendes. Die Rede wird in allen Gemeinden Frankreichs angeschlagen. Ich erinnere mich eines Scherzwortes des verstorbenen Frank Wedekind, der einmal gesagt hat «Belgien dürfen wir nie wieder herausgeben, damit man die Schweinereien nicht erfährt, die wir dort begangen haben.» — Jetzt, wo die deutsche Armeeleitung Belgien und Nordfrankreich räumt, wird man Dinge erfahren, die den Hass auf Jahrzehnte festigen werden. Wie soll es zum Dauerfrieden, wie zum Völkerbund kommen, wenn dieser Hass weiterglüht?

Es sind bange, spannende Stunden, die wir durchleben. Jeden Augenblick kann es sich entscheiden, ob der Friede zustande kommt, oder ob der Krieg in seiner erbittertsten Phase weitergeht.

Ich zweifle an dem Friedensschluss. Die Vertreter des alten Deutschlands leben noch und warten im Hintergrund. Man sieht sie. Sie warten auf den Augenblick, um dem deutschen Volk die Notwendigkeit der völligen Selbstaufopferung, der sogenannten «nationalen Verteidigung», klarzumachen und dadurch für einige Zeit wieder ans Ruder zu kommen. Sie sind noch nicht tot, und die neue Regierung begreift es nicht, dass ihr nur ein völliger Bruch mit dem Alien Vertrauen und die Macht zum Friedensschluss geben kann. Die neue Regierung begreift manches nicht. Sie gibt sich pazifistisch. Aber es besteht ein großer, ein grundsätzlicher Unterschied zwischen jenen, die Pazifisten geworden, weil der Krieg verloren geht, und jenen, die Pazifisten wurden, weil er überhaupt gemacht wurde, die auch in den Zeilen des Sieges Pazifisten waren. Solche Männer, die niemals gewankt, die niemals das Verbrechen mitgemacht haben, braucht Deutschland. Sie allein könnten das deutsche Volk zum Frieden, zur Rettung in eine bessere Zukunft führen. Die anderen werden es zum Ruin, zur völligen Zerfleischung, zum Bolschewismus bringen.

Liebknecht hat das Zuchthaus verlassen dürfen. Nun kann Scheidemann sich erst seines Ministersessels freuen. Unmöglich wäre es gewesen, als demokratische und pazifistische Regierung zu fungieren und jenen Mann hinter Zuchthausmauern zu belassen, der als erster in Deutschland den Mut gehabt hat, das Verbrechen dieses Kriegs aufzudecken. Mit dieser Tat hat die neue Regierung Gutes vollbracht. Liebknechts Befreiung kann dem Frieden dienen. Und wie lange noch soll Friedrich Adler hinter Kerkermauern sitzen?

Man ist an solche Raschheiten des Verkehrs längst nicht mehr gewöhnt. Bereits heute nachmittag war die Antwort Wilsons auf die deutsche Note da, die wir erst vorgestern kennen gelernt haben. Eine umfangreiche Note, aber eine gewichtige auch. In Deutschlands Geschichte von unerhörter Tragweite und Schwere.

Präsident Wilson nimmt den deutschen Vorschlag auf Vermittlung des Waffenstillstandes bei der Entente an. Er fühlt, «dass er nicht mehr sich weigern könne, mit den Regierungen, mit denen die Regierung der Vereinigten Staaten verbündet ist, der Frage eines Waffenstillstandes näherzutreten».

Aber er lässt erkennen, dass die Bedingungen dieses Waffenstillstandes, wenn die Regierungen der Entente überhaupt darauf eingehen sollten, nicht leicht sein werden. Es müsste ein Waffenstillstand sein, der eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten durch Deutschland unmöglich machen würde, der den Alliierten «das unbeschränkte Recht zur Sicherung der Einzelheiten des Friedens, mit denen die deutsche Regierung sich einverstanden erklärt hat, zu verbürgen und durchzusetzen»,wahren würde. Es werden also harte Bedingungen sein, die der Oberkommandierende der Ententeheere Deutschland stellen wird. Wilson nennt diese zu erwartenden Bedingungen selbst «außerordentliche Sicherungen», und er begründet deren Forderung damit, dass er die Demokratisierung Deutschlands doch nicht für so verbürgt hält, das sie als dauernd angesehen werden kann.

Und nun kommt die einschneidendste Forderung, die bereits in Wilsons erster Note angedeutet war, in der zweiten näher umschrieben wurde und nun unumwunden zum Ausdruck gebracht wird. Er ist der Ansicht, dass «die entscheidende Initiative immer noch bei denen liegt, die bis jetzt die Herrscher von Deutschland waren». Aber die Nationen der Welt können kein Vertrauen haben zu «den Worten derer, die bisher die Herren der deutschen Politik geworden sind». Nur mit jenen Vertretern des deutschen Volkes will die Regierung der Vereinigten Staaten verhandeln, «welche mehr Sicherheiten für eine feste verfassungsmäßige Haltung bieten, als die bisherigen Beherrscher von Deutschland».

Wenn aber die Regierung der Vereinigten Staaten mit den militärischen und den monarchischen Autokraten Deutschlands jetzt oder später verhandeln müsse, «so wird sie nicht Frieden, sondern Übergabe verlangen».


Das ist die Forderung nach der Beseitigung des Kaisers und der obersten Militärleitung.

Das deutsche Volk wird jetzt vor die Wahl gestellt, zu kapitulieren oder sich für die Dynastie und das Oberkommando in ein neues, unerhörtes Blutbad zu stürzen.

Das wird einen tiefen Eindruck in Deutschland machen.

Wird es möglich sein, das erschöpfte Volk unter der ausdrücklichen Parole «für Wilhelm II. und seine Generale» in einen Verzweiflungskampf zu stürzen. Wird die Alternative allein nicht den Bürgerkrieg entfesseln. Die lautet Frieden oder den Kaiser, den Kaiser oder den Frieden.

Diese Parole kann den Bürgerkrieg entfesseln, wenn nicht der Kaiser selbst rasch und entschlossen das fürchterliche Dilemma durch seine Abdankung löst.