Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. November.

In Belgien werden fortwährend Todesurteile gefällt und sofort vollstreckt. Heute wird von neun solchen Urteilen und Vollstreckungen gemeldet. Die Verurteilung erfolgte wegen Spionage, Fluchtvermittlung für belgische und französische Soldaten. Sie entspricht sicher dem Gesetz. Aber entspricht das Gesetz dem Zeitalter? Warum liefert Deutschland den Belgiern Stoff zu Märtyrerdenkmälern, die den Hass wachhalten werden?

Prinz Boris von Bulgarien (und andere bulgarische Prinzen und Heerführer) haben das eiserne Kreuz verliehen erhalten. Ich erinnere mich, dass der bulgarische Thronfolger die Tapferkeitsmedaille bereits in der Wiege erhielt. Bertha v. Suttner hat dieses Faktum damals glossiert.

Dr. Leo Lederer berichtet im «Berliner Tagblatt» (30. Oktober) über die Beschiessung von Dedeagatsch: «Wider alles Völkerrecht, ohne jeden militärischen Zweck und gegen jedes menschliche Empfinden bombardiert die Flotte der Engländer und Franzosen nun Tag für Tag das schutzlose Dedeagatsch.» Ja, beim Himmel!, versagt denn alle Vernunft. Wieso wundert man sich, dass die Engländer Dedeagatsch bombardieren, wenn die Deutschen die unbefestigten Städte an der Ostküste Englands bombardiert haben, wenn London von Zeppelinen aus mit Bomben beworfen wird?

Der Wiener Arzt Baranyi hat den Nobelpreis für Medizin bekommen. Die Blätter drücken ihre Genugtuung darüber aus, dass einem Österreicher diese Ehrung zuteil wurde. Bis jetzt war ich der einzige Nobellaureat der Monarchie. Mein neuer Kollege soll während des Kriegs als Arzt in Przemysel eine eigene Methode zur Behandlung von Kopfschüssen gefunden haben. Das Verdienst dieser Arbeit wäre einleuchtender als das der meinen, die schliesslich nur die Vermeidung von Kopfschüssen erstrebte.