Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Wien, 20. Januar.

Vorgestern ist in Paris die Friedenskonferenz eröffnet worden. Das Ereignis ist also eingetreten, das uns jahrelang in bangen Monaten, Wochen, Tagen vorgeschwebt hat, das wir so glühend ersehnt hatten. Der Friedenskongress! Da ist er nun! Aber wie stellt er sich uns dar! In seiner Eröffnungsrede hat Präsident Poincaré selbst ihn als «Gerichtshof» bezeichnet. Das ist er auch in gewissem Sinn. Den Zentralmächten gegenüber ist es ein Richterkollegium, das sich da in Paris versammelt hat, und diese erscheinen als die Angeklagten, die in der Zelle auf das Urteil harren. Aber nicht einmal das Recht der Verteidigung ist ihnen gewährt, das jedem Schwerverbrecher zugebilligt wird.

Von anderm Gesichtspunkt aus betrachtet ist es aber doch ein Friedenskongress, eine Konferenz, auf der entgegengesetzte Anschauungen ausgeglichen werden sollen. Nur dass der Ausgleich nicht zwischen den Gegnern im Krieg, sondern zwischen den dabei verbündet gewesenen stattzufinden hat. Es sind nicht Feinde, die miteinander verhandeln über Interessengegensätze, Weltanschauungen, verschiedene Begierden und Hoffnungen. Und das ist der Hauptgrund, warum die eigentlichen Kriegsgegner ausgeschlossen wurden. Ihr Gewicht könnte zu sehr zugunsten des einen oder andern Widerstreitenden ausfallen und deren Einigung erschweren.

Die völlige Niederlage, die die Borniertheit der deutschen Militärs über die Völker der Zentralmächte gebracht hat, machte es den Siegern leicht, die unangenehmen Störer bei ihren eigenen Ausgleichsversuchen auszuschalten. Es hätte die Erwägung obwalten können, ob nicht das deutsche Volk, Deutsch-Österreich und die Ungarn, die mit ihren Verführern gebrochen haben, und sich selbst von einem Joch befreiten, das sie nicht minder drückend empfanden als die anderen befreiten und als die siegenden Völker, als gleichberechtigte Faktoren an der Friedenskonferenz hätten teilnehmen sollen. Aber jene Unseligen, denen die Völker die Führung ihrer Geschicke anvertrauten, haben es so sehr verstanden, alle führenden Schichten in den Zentralländern mit sich zu reißen, dass diese alle durch ihre Haltung während des Kriegs sich kompromittiert haben, und es den Siegern leicht gemacht wurde, die Identität des Volkes mit den alten Regimen nachzuweisen, und trotz der vor sich gegangenen Umwälzungen die Feindschaft gegen die Völker fortzuführen. Man kann das den Ententemachthabern kaum verargen. Wenn auch die Köpfe des alten Staats gefallen sind, die Leiber bestehen noch aus denselben Zellen und müssen erst regeneriert werden.

Und doch wird diese Friedenskonferenz den Frieden nicht bringen, wenn sie bis zum Schluss auf die Fernhaltung der anderen Parteien verharrt, doch wird sie den Völkerbund nicht bringen, wenn sie diesen nur für die Sieger bilden will. So entstand die heilige Allianz. Was aus dieser geworden ist, wissen wir. Die Spuren sollten abschrecken.

Noch herrscht im Uhrensaal am Quai d’Orsay der Geist der Rache. Schon der Umstand, dass man am 18. Januar die Konferenz eröffnet hat, beweist es. Es ist das Datum, an dem vor achtundvierzig Jahren das deutsche Reich vor den Toren von Paris proklamiert wurde. Symbol. Und wer weiß, ob man den endgültigen Friedenstraktat nicht am Tage von Sedan in Versailles unterzeichnen will. Symbole der Rache. Mögen sich doch bald die Symbole des Friedens auf diesem größten und wichtigsten Friedenskongress der Weltgeschichte bemerkbar machen. Möge es ihrem Hüter Wilson gelingen, sie zu entfalten und zum Siege zu führen.