Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. September.

In dem Irrtum befangen, dass dieser Krieg, so wie es früher einmal üblich war, mit Sieg der einen und Niederlage der andern Gruppe enden müsse, fangen die Organe jener Parteien, die für den Krieg bis aufs Äusserste sind, an die Anwendung der schärfsten Mittel zu verlangen. Der Abgeordnete Stresemann  hat am 3. September in Eisenach ungeduldig die Anwendung dieser schärfsten Mittel verlangt. Er sagte:

«Wir können mit der Anwendung unserer schärfsten Kampfmittel nicht warten, bis auch der letzte Neutrale unter Englands Druck gegen Deutschland ficht.»

Wenn wir nicht warten können, so wäre es vernünftiger, Frieden zu schliessen, statt die schärfsten Mittel anzuwenden. Diese könnten zweischneidiger Art sein. Unsere Kriegsultras geben sich zwar der Meinung hin, dass die Gegner gegenüber der Anwendung dieser schärfsten Mittel völlig wehrlos sind. Bisher hat sich aber diese Annahme stets als irrig erwiesen. Jedes ausserordentliche Kriegsmittel wurde von der Gegenpartei stets nachgemacht und gegen die ursprünglichen Urheber verwendet. Dies gilt nicht für die Unterseeboote, die gegen Deutschland nicht angewendet werden können, deren volle Ausnützung jedoch andere für Deutschland nachteilige Massnahmen nach sich ziehen würde. Dennnoch wird unter den «schärfsten Kampfmitteln» die volle Ausnützung der Unterseebootwaffe verstanden, und wenn der Abgeordnete Stresemann dieses «schärfste Kampfmittel» anwenden will, um zu verhindern, dass «auch der letzte Neutrale . . . gegen Deutschland ficht», so übersicht er, dass die Folge der Anwendung dieses Mittels gerade den gefährlichsten Neutralen, Amerika, den Gegnern Deutschlands zugesellen würde. Dieses Nichtbeachten solchen Widerspruchs erweist die Sinnlosigkeit des Gebarens, deutet die Gefahren an, die dem deutschen Volk drohen, wenn es jenen Aposteln der uneingeschränkten Gewalt gelänge, die Macht an sich zu reissen.

Die volle Anwendung der Unterseeboote ist es nicht allein, an die gedacht wird. Die Massenangriffe der Zeppeline auf die feindlichen Hauptstädte spielen in den Plan der Ultras eine grosse Rolle. Man glaubt, dass man Paris und London ungestraft vernichten könnte, dass sich die Gegner, wenn dies gelänge, auf Gnade oder Ungnade Deutschlands ergeben würden. Die Träumer solchen Wahnsinns denken nicht daran, dass die Gegner in solchem Fall auf nichts anderes sinnen würden als an Vergeltung, und dass ihnen auch Mittel dazu zur Verfügung stehen würden, ganz abgesehen davon, dass es ihnen gelingen würde, ihre Reihen durch weitere Neutrale zu verstärken. Dasselbe würden auch jene anderen Mittel zur Folge haben, die man etwa noch in Vorbereitung hat, wie die bereits vielfach erörterten Cyanitbomben, die ein unsichtbares, stark wirkendes Gas auf weite Strecken verbreiten sollen.

Das wahnsinnigste an Vorschlägen für eine schärfere Kriegsführung leistet sich das wahnsinnigste aller deutschen Blätter, die «Hamburger Nachrichten» des Herrn Hartmeyer.

In einem «Unausgenützte Mittel der deutschen Politik» betitelten Aufsatz (5.IX.) lässt sich das Blatt angeblich aus der Schweiz — eine ganze Blutenlese von Gewaltmitteln vorschlagen. Man höre, was Herr Hartmeyer empfiehlt:

1.    Beschlagnahme aller Lebensmittel in den besetzten Gebieten für Deutschland und Verhinderung der Zufuhr von  Lebensmitteln für die Bewohner dieser Gebiete.

2.    Konfiskation von privatem und öffentlichem Eigentum in den besetzten Gebieten.

3.    Zerstörung feindlichen Eigentums, namentlich industrieller Produktionsmittel in den besetzten Gebieten.

4.    Die Erhöhung der monatlichen Kriegskontribution Belgiens von 40 Millionen Franken auf 400 Millionen.

5.    Verkauf der belgischen Kunstschätze an das Ausland.

6.    Fortschaffung der luxuriösen Einrichtung der Villen und Paläste der belgischen Millionäre.

Ein nettes Programm! Das deutsche Volk könnte, wenn es auf Grund der Hartmeyerschen Vorschläge einen Frieden erzwingen würde, in Umkehrung eines geschichtlichen Ausspruchs sagen: Nichts verloren, nur die Ehre.

Aber dieser Vorschlag eines Besessenen zieht die Folgen nicht in Betracht, die seine Erfüllung für das deutsche Volk hätte. Wäre nicht jeder Deutsche in der ganzen Welt geschändet und verachtet für alle Zeiten? Würde nicht der nach Milliarden zählende Besitz Deutscher im feindlichen Ausland völlig verloren sein, und es den Kriegführenden nicht am Ende auch gelingen, die neutralen Staaten zu zwingen, das bei diesen lagernde deutsche Vermögen zu konfiszieren?

Man sieht, zu welch gefährlichen Hirngespinsten die Verzweiflungsideen jener führen, die das deutsche Volk verbrecherisch in den Krieg hineingetrieben haben, und die nun, um sich selbst zu retten, nicht davor zurückschrecken, diesem Volk noch ärgere Schmach anzutun und noch ärgere Verluste zuzufügen.