Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. Januar.

Gestern haben nun Graf Czernin und Graf Hertling die längst erwarteten Reden gehalten.

Was für mich das Bedauerlichste an der Rede Hertlings ist, das ist die nebensächliche Behandlung der Hauptsache, das, was der Reichskanzler den «Verband der Völker» nennt. Diese Wenns und Aber sind da wahrhaftig nicht angebracht. Hertling steht der Frage als Fremder gegenüber; er verspricht lediglich, «wenn alle schwebenden Fragen geregelt sein werden» — «der Prüfung nahezutreten». Kühler und aussichtsloser kann man wohl eine Sache kaum behandeln. Vor allen Dingen vergisst oder verkennt Graf Hertling, dass die Organisierung der Staatengesellschaft ein Problem ist, das bereits völlig klar gelegt ist, über das die Arbeit von Jahrhunderten bereits eine vollkommene Übersicht bietet, so dass man nicht erst näherzutreten oder zu prüfen hat, sondern kurz und bündig zu erklären in der Lage ist, ob man den notwendigen Forderungen entsprechen will oder nicht. Diese bedauerliche Gleichgültigkeit, die durch die Versicherung, dass man dem Gedanken «sympathisch» gegenübersteht, erst recht Relief erhält, raubt dem Friedenexpose die Grundlage und den Wert. Denn zahlreiche seiner Forderungen zerfallen in sich, viele seiner Bedenken würden der Grundlage entbehren, wenn der Gedanke der Staatengesellschaft an die Spitze gestellt wäre und nicht als wohlwollend geduldetes Dekorationsstück am Ende der Bedingungen erwähnt werden würde.


Im Rahmen einer gesicherten Staatengesellschaft würde die schwerste Frage, die elsaß-lothringische, ihre Erledigung, würden alle Sicherungsideen ihre Erfüllung finden.

Aber auch sonst ist die Hertling-Kundgebung wenig geeignet, den Weg zum Frieden zu bahnen.

Wenn Elsaß-Lothringen im Jahr 1871 eine bloß Desannexion deutschen Landes war, so ist nur bedauerlich, dass man dieses Land noch 1915 als ein «feindliches» bezeichnen musste, und in 45 Jahren nicht in der Lage war, zu beweisen, dass auch die Bewohner jener 14 000 Quadratkilometer mit ihrer Befreiung ebenso zufrieden waren wie die Befreier.

Und nun die belgische Frage. Der Reichskanzler hat das Wort, das die Menschheit, mit ihr die besten Teile des deutschen Volks erwarten, nicht gesprochen.

Belgien ist ihm nicht das Opfer, dem ein Unrecht geschehen, das wieder gut zu machen dem deutschen Volk eine Ehrenpflicht sein sollte, sondern ein Tauschobjekt. Der Verzicht auf die Annexion hat keinen Wert, wenn das Unrecht, das durch die Invasion begangen, nicht als solches anerkannt wird. Es handelt sich nicht darum, dass Belgiens Freiheit abgekauft wird, von dem, der sie vernichtet, sondern darum, dass durch die freiwillige Wiederherstellung dieser Freiheit das verletzte Völkerrecht wieder gut gemacht, das Vertrauen für die Zukunft wieder gesichert wird. Ist Belgiens Wiederherstellung ein Tauschobjekt, dann wird vielleicht das Königreich wieder aufleben, niemals aber das mit Füßen getretene internationale Recht, niemals wieder der Glaube an die Heiligkeit der Verträge; es fehlen dann die Grundquadern zur Staatengesellschaft.

Zum Schluss hat nun Graf Hertling noch den Fehler gemacht, Wilson wie Lloyd George mit der Aufforderung nach Hause zu schicken, sie mögen ihr Programm nochmals revidieren und dann wieder kommen, so ungefähr, wie man zwei nachlässige Schüler behandelt, die eine unsaubere Hausarbeit abgeliefert haben.

Graf Hertling, der die eigene günstige militärische Situation den Feinden als Friedensanregung entgegenruft, hat wohl bei der Tongebung und Abfassung seiner Rede nicht daran gedacht, dass deren Endwirkung noch viel deutsches Blut kosten oder ersparen kann. Wenn er von der «ungebrochenen Kampfesfreude» spricht, die alle deutschen Mannschaften belebe, so beruht wohl diese Feststellung nicht auf einer im deutschen Volk veranstalteten Enquete. Es wäre vielleicht glücklicher gewesen, zu sagen, dass das deutsche Volk als Kulturvolk naturgemäß nach dreieinhalbjährigem Krieg des Morden» müde ist, und nur dem Zwang der Pflicht gehorchend, auszuhalten bereit sei, so lange es nötig erscheint, statt von einer Hurrastimmung zu reden, an die, zu Ehren des deutschen Volks, heute niemand mehr glauben will.

Was die Rede Czernins bedeutet, muss die Zukunft lehren. Stände Österreich-Ungarn als selbständiger Faktor im Krieg, dann könnte man auf Frieden hoffen. Da aber unseligerweise die Monarchie «auf Gedeih und Verderb» mit dem deutschen Reich verbunden ist, so verlieren die Friedensaussichten, die sich bei der Lektüre der Czerninschen Rede eröffnen, an Wert. Was nützt die Versicherung des österreichischen Grafen, dass seine Verhandlungsbasis mit dem russischen Reich, die «eines Friedens ohne Kompensation und ohne Annexionen ist»; was nützt die Erklärung, dass er «keinen Quadratkilometer und keinen Kreuzer von Russland verlange», wenn der Friedensschluss erst herbeigeführt werden kann, bis die deutschen Siegfriedler und Annexionisten befriedigt sind.