Thun, 12. Juli.
Die deutsche Antwort auf die amerikanische Note vom 10. Juni ist dem Botschafter der Union am 10. Juli übergeben worden. Dieser Zwischenraum von einem Monat erscheint mir als das Bedeutendste daran. Er kennzeichnet die Methode der dilatorischen Behandlung, die die Grundlage aller Verständigung bei Staatenkonflikten bildet. Die Note ist im versöhnlichen Geist gehalten, sie macht den Amerikanern Vorschläge, die die Gefährdung amerikanischer Bürger künftig zu verhindern vermögen. Ob sie in Amerika befriedigen wird, kann man noch nicht absehen. Immerhin ist die Möglichkeit gegeben, weiter zu verhandeln.
Nun stelle man sich vor, die Vereinigten Staaten hätten am 8. oder 9. Mai unmittelbar nach der Torpedierung der «Lusitania», unter dem Eindruck der aufgeregten Meinung, an die deutsche Regierung die Aufforderung gerichtet, binnen 48 Stunden den Unterseebootkrieg einzustellen. Die deutsche Regierung hätte eine derartige Aufforderung als ihr Ansehen beleidigend zurückgewiesen oder garnicht beantwortet. Das hätte wieder das Ansehen der Vereinigten Staaten verletzt, und diese würden zweifelsohne den Krieg erklärt haben. Das wäre die europäische Methode gewesen, wie sie im Juli vorigen Jahres auf unserm Erdteil zur Anwendung gelangte. Wenn der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland vermieden wurde, so verdanken wir dies dem Umstand, dass die Vereinigten Staaten diese europäische Methode für gefährlich ansehen und im Interesse ihrer Bürger und der Menschheit die pazifistische Methode der dilatorischen Behandlung zur Anwendung bringen. Sie zeigen der Welt, wie man den Krieg vermeiden kann, wenn man sich nicht durch romantische Prestigedogmen, durch die augenblickliche Erhitzung der öffentlichen Meinung fortreissen lässt, sich vielmehr auch unter den erschwerendsten Bedingungen der hohen und grossen Verantwortlichkeit bewusst ist, die der Entscheidung über Krieg und Nichtkrieg innewohnt. Hätte dieses Verantwortlichkeitsbewusstsein alle Regierungen und alle Staatsmänner Europas an jenen unseligen Tagen beherrscht, die sich binnen kurzem jähren werden, unser Erdteil wäre heute glücklicher und die gegenwärtige wie die nachfolgende Generation würden nicht um den Vollgenuss ihres Lebens gebracht worden sein.
Hätte die amerikanische Regierung jedoch nach dem europäischen Rezept gehandelt, so würde es auch ihr gelungen sein, die «Unvermeidlichkeit» dieses Kriegs nachzuweisen, das göttlich Elementare in ihm darzulegen und ihr heiliges Recht zu betonen. Sie hätte als neunter Feind der bereits von acht Seiten bekämpften Zentralmächte die Chancen des Erfolgs und den Beifallsjubel der Alliierten für sich gehabt. Sie hat diese Konjunktur verschmäht und hat es vorgezogen, den Weg der Vernunft zu gehen. Damit hat sich die Union um die Menschheit verdient gemacht. Aus dem fürchterlichen Weltkrieg geht sie als der moralische Sieger hervor. Dies wird ihr vielleicht den Kredit und die Macht geben, dem zerfetzten Europa bei seiner Wiederherstellung beizustehen.
Im übrigen ist die Note in jenem altertümlichen Geist gehalten, der unsre Diplomatie kennzeichnet. Der Krieg wird als eine «Notwehr für unsre nationale Existenz» bezeichnet, was er in Wirklichkeit nicht ist; es wird von den «Prinzipien höchster Humanität» gesprochen, deren Versäumnis sich die Regierung «vor Gott und der Geschichte» schuldig machen würde, wenn der Unterseekrieg aufgegeben werden würde. Der Untergang der «Lusitania» wird «der Art der Kriegführung unsrer Gegner» in die Schuhe geschoben. Ich bin der Meinung, dass die Passagiere der «Lusitania» hätten gerettet werden können, wenn man den Inhalt der jetzigen Note der amerikanischen Regierung vorher übermittelt hätte, mit den zur Sicherung ihrer Staatsbürger darin gemachten Vorschlägen, statt sich mit der Warnung durch ein Zeitungsinserat zu begnügen. Es ist als sicher anzunehmen, dass die «Lusitania» ohne Passagiere abgefahren wäre, wie es jetzt als gewiss anzunehmen ist, dass die Amerikaner nur mehr mit solchen Schiffen reisen werden, deren Sicherheit von der deutschen Regierung in der Note gewährleistet wurde. Es hätte sich wohl gelohnt, durch solch eine eindringliche Mahnung das Leben von 1500 Unbeteiligten zu schonen und den üblen Eindruck der Tat zu verhindern.