Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. Juli.

Eine russische Offensive hat sich losgelöst. Der übliche Anfangserfolg mit 10 000 Gefangenen und kleinem Gebietsgewinn. Wenn dieser Ansturm nicht einmal dort, wo die Verteidigung doch sicher auf ein Minimum reduziert war, kein größeres Ergebnis gehabt hat, wird die Zwecklosigkeit solch opferreicher Vorstöße doch nicht mehr bestritten werden können. Immerhin bedeutet der russische Vorstoß das Ende der Separatfriedensidee und das Ende des stillschweigend abgeschlossenen Waffenstillstands an der Ostfront.

In Österreich-Ungarn, wo die Kriegsüberdrüssigkeit allgemein zu sein scheint, mag die Bewegung im Osten einige Bestürzung erregt haben, wenn dies auch in der Öffentlichkeit nicht zum Ausdruck kommt. Die plötzliche Reise Hindenburgs und Ludendorffs nach dem Hauptquartier in Baden beweisen dies und ebenso der für diese Tage angekündigte Besuch des deutschen Kaiserpaars in Wien. In Österreich bricht sich offenbar die Überzeugung immer mehr durch, dass die Fortführung des Kriegs für die Monarchie gar keinen Sinn mehr habe, und die Aussichten auf eine Erträglichkeit der Opfer und Kosten täglich mehr schwinden. Die Vernunft muss zugeben, dass Österreich-Ungarn es nicht nötig hat, sich für die phantastischen Kriegsziele der Alldeutschen zu opfern. Österreich-Ungarn braucht sein Vertragsverhältnis mit Deutschland nicht zu verraten, aber die Stunde ist gekommen, wo es sein Veto einlegen müsste gegen diesen ins Uferlose gehenden Krieg, den vielleicht das wirtschaftlich stärkere Deutschland noch einige Zeit ertragen kann, sicher aber lange nicht mehr die wirtschaftlich schwächeren Bundesgenossen des Reichs. Sonst könnte es geschehen, dass die Monarchie, die so großes Gewicht darauf legt, durch den Krieg der Welt gezeigt zu haben, dass sie nicht der andere kranke Mann Europas ist, durch die Opfer des über alle Zweckmässigkeit hinaus ausgedehnten Kriegs wirklich eine unheilbare Krankheit des staatlichen Organismus erwirbt.

Feldmarschall Hindenburg hat, von Wien zurückgekehrt, eine Kundgebung über die Lage veröffentlichen lassen, in der er den Krieg für gewonnen erklärt, «wenn wir den feindlichen Angriffen standhalten, bis der Unterseebootkrieg sein Werk getan hat». Diese Kundgebung soll Zuversicht verbreiten. Mir kam sie nicht überraschend, denn kürzlich wurde hier von einem, der es wissen kann, mitgeteilt, dass zum Herbst, wenn das Ende des Kriegs durch den Unterseebootkrieg nicht erreicht sein sollte, eine Kundgebung der Generäle die nötige Zuversicht erwecken soll. Das sind Notbehelfe, die nichts besagen wollen.

Die Amnestie Kaiser Karls ist von großer Bedeutung. Mich stört darin ein wenig der alt-auto-kratische Stil, der mit den Ideen einer «modernen Demokratie» nicht vereinbar ist und der Gedanke, dass die schönste Amnestie die Toten nicht aufweckt, die in der Verwirrung einer wütenden Militärjustiz zum Opfer gefallen sind. Das Aktenstück kann die innerstaatliche Versöhnung fördern. Es wird jedenfalls in der Welt draußen die Sympathien für Österreich-Ungarn mehren, und das ist bei dieser Sturmflut des Hasses eine große Errungenschaft.

Von großer Wichtigkeit erscheint mir aber die Eingangsbegründung, in der folgender Satz vorkommt:

«Die Politik des Hasses und der Vergeltung, die durch unklare Verhältnisse genährt, den Weltkrieg auslöste, wird nach dessen Beendigung unter allen Umständen und überall ersetzt werden müssen durch eine Politik der Versöhnung.»

Das ist nicht nur eine Verurteilung der europäischen Politik der Vergangenheit, das scheint mir auch eine ernste Kritik an jenen Vorgängen zu sein, die im Juli 1914 den Kriegsausbruch veranlassten, ein Bekenntnis gegen jene, die in diesen kritischen Tagen ihre Pflicht nicht einwandfrei erfüllten. Vor allen Dingen birgt jener Satz die Richtlinien für eine pazifistische Gestaltung der Politik nach dem Krieg.

In diesem Sinn erfasse ich die Amnestie als einen Triumph Österreich-Ungarns und als einen Beweis des Verständnisses für die diesem Völkerstaat zufallende große Aufgabe bei der Regenerierung der zerfleischten Menschheit.