Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 7. August.

Mein Tagebuch hat heute seinen Geburtstag. Heute vor einem Jahr begann ich es. Erst an jenem Tage fing ich an, an die Unabänderlichkeit des Ereignisses zu glauben. Bis dahin hatte ich noch immer gehofft, dass die Katastrophe vermeidbar sein werde. Und da kam plötzlich die Schwere des Erlebnisses über mich, von der ich durch meine Niederschriften Erleichterung erhoffte. Man hat mir von zwei entgegengesetzten Seiten Vorwürfe gemacht, dass ich mein Tagebuch erst mit dem 7. August beginnen lasse. Warum nicht mit dem vierten, rief ein Alldeutscher. Aha! Er will nicht über den grossen historischen Augenblick der Reichstagseröffnung schreiben. Und ein belgischer Pazifist stellte dieselbe Frage und beantwortete sie damit, dass ich mich scheute, gegen den an Belgien begangenen Neutralitätsbruch zu schreiben. Und ich begann das Tagebuch lediglich nur deshalb am 7. und nicht am 4., weil mir vorher die Idee dazu nicht gekommen war, und ich nicht das Bedürfnis dazu empfunden hatte. Wie einfach!

Gestern besuchte mich Dr. P. R., der Verleger der X.-Ztg., der sich als Interessent des Pazifismus erwies. Er glaubte zu wissen, dass die Regierung in Deutschland jetzt stark annexionsgeneigt sei, dass man nicht nur an Belgien und Teile Nordfrankreichs, sondern auch an Polen und die baltischen Provinzen denke. Er selbst erhoffte aus der Durchführung dieses Programms, die Entwicklung eines Überstaates, der den alten Nationalstaat zu einem Nationalitätenstaat entwickeln würde, der wiederum den Kern einer europäischen Staatenunion unter deutscher Führung abgeben könnte. Ihm und den Kreisen, in denen er verkehrt, scheine ein endgültiger Sieg Deutschlands sicher. Noch vor Winterbeginn werden die deutschen Truppen in Petersburg, Paris und Calais stehen und den Frieden erzwingen. Diese Auffassung war mir neu und im höchsten Maße interessant.