Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 5. November.

Auch die Nachrichten des deutschen Generalstabes geben einen Rückzug in Westflandern infolge der von den Verbündeten herbeigeführten Überschwemmung zu. Über Mannshöhe dringen die Fluten ein. Die Gegend ist auf Jahre hinaus vernichtet. Wahrscheinlich hat man die Dämme gegen das Meer durchstochen und hat damit das, was emsige Kulturarbeit in jahrelangem Ringen dem Meere abgetrotzt hat, dem Meere wieder gegeben, um es den vordringenden Deutschen nicht überlassen zu müssen. Mit allen Mitteln wird gekämpft. Auch die Fluten der Meere werden zur Hilfe genommen, wie es weiland die Juden gegen Pharao taten. Was im Osten vorgeht, ist aus den sich widersprechenden Mitteilungen nicht zu ersehen, soviel steht fest, dass ein Rückzug angetreten wurde, und der Kampf in neuer Position aufgenommen werden wird.

Die französischen Zeitungen, wenigstens «Matin», «Journal», «Figaro» sind widerlich in ihrem Deutschenhass. Es wird zwar in punkto Nationalhass auch von den deutschen Zeitungen Beträchtliches geleistet, aber das muss festgestellt werden — nicht in so widriger Weise. Gestern las ich im «Figaro» (2. November) in einem Artikel, der den geschmacklosen Titel «Brüssel unter deutschem Stiefel» trägt, eine Erzählung, dass deutsche Offiziere und Soldaten bei ihren amtlichen Einkäufen sich höhere Rechnungen ausstellen lassen, um den Mehrbetrag als Provision einzustecken. Auch gegen derartige Brunnenvergiftung müssten Verträge sichern und wäre seitens der neutralen Mächte Verwahrung einzulegen.

ln der (Wiener) «Zeit» vom 1. November finde ich ein Feuilleton von der Karin-Michaelis, betitelt: «Dein Sohn fiel wie ein Held. Brief an eine Mutter.»

Darin folgende Stelle:

«Er aber, er wurde auserwählt, Dein einziger Sohn! Siehst Du nicht, dass das ein Geschenk für Dich ist? Ein Märchen? Ein Märchen, das der Tod in sein grosses Buch eingrub, Dir zu Ehren? — —

Lächle! Lächle Du Mutter, die jetzt allein ist! —

Und denke, denke, — nein Du weisst es ja so vielmals besser als ich, dass jedes Lächeln von Dir seinen langen Schlaf friedlicher macht, traumerfüllender. Lass nur die Tränen auf Deine Blumen fallen, denn dann werden sie wieder zu Düften und Saft. Aber lächle ... in den stillen Nächten, wenn Du schlaflos Deines Sohnes gedenkst. — Alles was Du für ihn im Leben noch wünschtest, kannst Du noch wünschen — im Märchen, im Gedicht.

Einst vor langer Zeit — trugst Du ihn unterm Herzen. Jetzt trägst Du ihn wieder. Nicht wie damals für eine kurze Spanne Zeit, vielmehr bis Dein eigenes Herz seinen letzten Schlag getan haben wird. —

Lächle! Lächle, Du Mutter! Lächle ihm zu, Deinem einzigen Sohn. — —»

Das ist Ekstase! Nur dass die Menschheit in normalen Zeiten durch dicke Mauern und feste Eisengitter vor solchen Ausbrüchen der Extase verschont bleibt. Heute wagt sich derartiges auf den Markt und will wegen seiner epileptischen Krämpfe bewundert werden.

Ich wünsche dieser Karin Michaelis nicht, dass nur eine von den tausenden armer Mütter, die ihr Liebstes in diesem grauenhaften Diplomaten-Kartenspiel verloren haben, ihr mit verzweifelten Fingern ins Gesicht fahre und ihr die Antwort gebe auf ihr unmoralisch-widerliches Geflenne.

Man wird sich daran gewöhnen müssen, diejenigen zu preisen, die heute schweigen. Die treue Heerschar der Schweigenden, die ihr grosses Weh, irrenden Auges hinunterwürgt, sie repräsentiert heute das Heilige in der Menschheit. Ihr gilt mein Gruss, mein Trost für jenen Tag, wo das Wort an ihr sein wird.

Eine Stelle aus dem Briefe von Alice W. in Berlin, einer kerndeutschen Frau, will ich hierhersetzen:

«— — Man findet ja überall diesen fatalistischen Gleichmut gegen das eigene Geschick. Das ist ja sicher etwas Erhabenes, und die Kriegsbegeisterten preisen ja auch das Aufgehen der Einzelnen in die Gesamtheit in den höchsten Tönen. Der Pfarrer Traub sagt, dass ein Mensch, der bereit ist, sein Leben für das Vaterland hinzugeben, ein ,lebendiger Tempel' Gottes ist. Er hat recht. Wenn sie vorbeizogen, dann muss man den Kopf neigen, und die Hände falten. Sie haben alle recht, die den Opfermut des deutschen Volkes bewundern. Sudermann hat recht mit ,was wir waren — was wir sind’, aber — Gott im Himmel! — die Voraussetzung dieses Heldentums ist doch der Krieg! Unsere schönen Gefühle sind aufgebaut auf der Qual Hunderttausender. Für unsere Läuterung verröcheln draussen unsere Brüder. Nein, ich kann nicht mit mit Nithack-Stahns «Dank an die Feinde». Der Gewinn verschwindet vollständig gegen den Einsatz. Dass ich heute nicht mehr kokettiere und flirte, sondern sitze und stricke, ist nicht ein Haar auf dem Haupte eines preussischen Grenadiers wert». — —

Das ist richtige Erkenntnis einer ihr Vaterland liebenden und doch im allgemeinen Taumel immun gebliebenen Frau. — —