Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

7. Mai (Lugano) 1915.

Die italienische Krisis hat noch an Spannung zugenommen. Die Berliner Blätter sprechen schon fatalistisch vom Krieg mit Italien. Die Situation sei ernst, heisst es im «Berliner Tageblatt», Hoffnung auf eine friedliche Beilegung wohl noch vorhanden, «sollte diese Hoffnung aber unerfüllt bleiben, so werden Deutschland und Österreich-Ungarn sich auch mit dieser Wendung abzufinden wissen, und sich allem, was kommen kann, gewachsen zeigen». Das ist der Tenor aller Berliner Blätter. Trotzig!

Unwillkürlich muss man angesichts dieser Lage immer an die Anfänge dieses Kriegs zurückdenken, an seine Urheber und an die gegeben gewesene Möglichkeit, ihn leicht zu vermeiden. Wie falsch war die Vorstellung eines Kriegs in den Köpfen der Gewaltapostel ausgedrückt, wie richtig bei uns Pazifisten. Wie der Krieg auch immer endigen mag, die Weltanschauung der Treitschke-Bernhardi, der Alldeutschen und Weltmachtspolitiker, der Imperialisten und Rassenfanatiker wird einen fürchterlichen Schock erleiden. Jetzt werden sie erst einsehen, wie untauglich das von ihnen gepriesene Mittel ist, wie sehr sie in ihrer nationalen Umnebelung die neue Struktur der Welt verkannt haben. Wahrhaftig ein teurer Unterricht.

Das Buch, «J’accuse! von einem Deutschen» betitelt, ist erschienen. Ich habe es gestern zu Ende gelesen und bin davon aufs Tiefste erschüttert. Die Schuld Deutschlands und Österreich-Ungarns an dem Krieg ist auf Grund der veröffentlichten Akten mit solch überzeugender Schärfe dargelegt, dass keine Schönfärberei dagegen aufkommen kann. Was ich in diesen Tagebüchern wiederholt aus eigener Erkenntnis dargelegt habe, ist unwiderleglich nachgewiesen. Man hat bei uns den Krieg gewollt. Es bleibt nur die eine Frage offen, warum man ihn gewollt hat, die ich als Rettung dahin zu beantworten suchte, dass die zwischenstaatliche Anarchie, also eine in den Einrichtungen liegende Gewalt, die Handlungen der Wollenden beeinflusst hat. Das ist mein rettender Ausweg; denn der Gedanke, dass dieses Verbrechen anders als im guten Glauben an eine Notwendigkeit, anders als unter dem Einfluss einer über den Staatsmännern stehenden Gewalt herbeigeführt wurde, müsste jeden Menschenfreund zum Selbstmord bringen.

Das Buch «J’accuse!» wird seine Wirkung nicht verfehlen. Es wird vielen die Augen öffnen, es wird den blinden Glauben an die schönfärbenden Darlegungen der deutschen und österreichischen Regierung zerstören und den Willen zu einer höher gesicherten zwischenstaatlichen Ordnung stärken.