Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

20. September 1914.

Die Schlacht im Westen bildet noch immer unsere Sorge. Gestern wurden zwar Teilerfolge der deutschen Heere gemeldet, aber im ganzen scheint es doch nicht sehr gut zu stehen. Dafür spricht schon die lange Dauer dieses Zusammenpralls, die in der Geschichte einzig dasteht. Auch der befremdende Umstand, dass ein Pariser Stadtrat vor vorzeitiger Rückkehr nach Paris warnen musste, ein Beweis, dass die Franzosen voll Vertrauen sein müssen. Auch dass die Pariser am letzten Sonntag in Massen Ausflüge nach dem Schlachtfeld gemacht haben und dort Reliquien sammelten, ist ein Beweis, dass dieses Schlachtfeld geräumt wurde und zwar in einer Richtung von Paris nordwärts, was einem deutschen Rückzug gleichkäme.

Aber auch von dem, was in Galizien vorgeht, hört man nichts. Oder so gut wie nichts. Denn das, was die Zeitungen bringen, sind Details, die dem Ruhm und der Tapferkeit des Heeres gewidmet sind, die aber nicht unterrichten. Von Egon, der bei Przemysl steht, kommen beunruhigende Nachrichten. Hans, der in Frankreich steht, soll nach einem Zeitungsbericht verwundet sein. Die Stimmung in Wien ist gedrückt. Soll in Budapest noch viel ärger sein. Gestern war Prof. Z. aus Budapest hier, der über den Winter in Salzburg eine Villa gemietet hat. Angst vor Epidemien, Revolten usw.

Der König von Bayern, der vom Felde nach München zurückgekehrt ist, hat am Mittwoch vor seinem Palast eine Anrede an das Volk gehalten, worin er u. a. sagte: «Ja, es ist ein harter Krieg! Da überzeugte ich mich erst recht wieder davon, welch grosses Glück uns Gott damit beschieden, dass wir gut vierzig Jahre Frieden hatten, und ich bitte Gott, dass auch jetzt bald wieder Friede werde, der mindestens ebensolange, vierzig Jahre, währen muss.» Ich führe diesen Ausspruch an, um zu zeigen, wie oft der Begriff des Friedens mit dem des Nichtkriegs verwechselt wird. Der König von Bayern denkt, wie die meisten unserer Zeitgenossen, an dem Zustand des Nichtkriegs, den vierzig Jahre genossen zu haben, und nach dem Krieg abermals vierzig jahre zu gemessen, ihm gewissermassen das Zwischenspiel des Krieges erträglicher erscheinen lässt. Den Pazifisten aber — wenigstens jenen, die auf meinem Boden stehen, ist dieser Zustand des Nichtkriegs, wenn er auch wieder vier Jahrzehnte dauern soll, nicht das erstrebenswerte Ziel. Es ist der Zustand der ständigen Kriegsgefahr, der zum unentwegten Wettrüsten führt, kurz der Zustand der internationalen Anarchie, der überwunden werden muss, und der den Nichtkriegszustand erst zum Frieden machen wird. Dann ist es gleichgültig, ob nicht etwa öfter Gewaltanwendung nötig werden wird. Der Zustand der Organisation, als welcher sich unser Friede darstellt, wird derartige Gewaltanwendungen nicht so zerrüttend gestalten, wie dies jetzt in der Anarchie der Fall ist. Wir werden dann keineswegs den «ewigen Frieden» (Frieden im Nichtkriegsinne gedacht) haben, wohl aber denjenigen «Frieden», der durch notwendige Gewaltanwendung auch nicht gestört wird.

Angenommen der Konflikt, der zwischen Serbien und Österreich-Ungarn entbrannt ist, hätte sich unter der Herrschaft der zwischenstaatlichen Organisation ereignet. Man hätte keinen Weltkrieg darob führen müssen. Es wäre zu einer internationalen Untersuchung gekommen. Im ungünstigsten Fall zu einer Polizeiaktion durch internationale Truppen. Das Leben der übrigen Welt wäre durch die Aktion nicht berührt worden. — Aber wäre es dann überhaupt zu jenem Konflikt gekommen? Hätte im Zeichen der zwischenstaatlichen Organisation Russland seine bedrohlichen Mobilisierungen ausführen können? Keineswegs! Das Schwergewicht der übrigen organisierten Welt hätte es zu sehr bedroht. Es konnte einzelne Staaten durch seine Mobilisierungen schädigen, einer organisierten Staatenmacht gegenüber hätte es dies nicht vermocht. Was hindert aber den Ausbau dieser vernünftigen Weltordnung, deren Grundlagen durch die international verquickten wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Beziehungen bereits gegeben ist? Nichts anderes als die zum Selbstzweck gewordene Institution des Militarismus, die mit Recht erkennt, wie sehr sie in einer derart organisierten Welt überflüssig werden würde. Gegen dieses Überflüssigwerden lehnt sie sich mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften auf. Und diese Kräfte sind nicht gering. Ist doch der Militarismus von einer Schutzvorrichtung des staatlichen Körpers zu einem selbständigen Körper geworden, der seine eigenen Zwecke verfolgt, der Lebensinteressen besitzt, die von den Interessen der staatlichen Gemeinschaft völlig getrennt sind. Er hindert den völligen Ausbau der zwischenstaatlichen Organisation und erfindet, um seine Daseinsberechtigung zu erhärten, die Kriege. Wenn ihm dies auch nicht mehr so leicht gelingt, so hält er wenigstens die Kriegsgefahr wach, die ihn rechtfertigen soll. Für diese Gefahren wie für die durch ihn herbeigeführten Kriege erfindet er dann nachträglich die Begründungen. Diese Begründungen sind aber falsch und widerstehen der ernsten Kritik nicht.