Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

30. September 1914.

Eine Rundfrage Prof. Reinhardts in Berlin, ob man Shakespeare spielen darf, ist bezeichnend für die Zeit. Sie wäre eigentlich eine Beleidigung für das deutsche Volk, wenn die Antworten darauf nicht so unbedingt mit «ja» gelautet hätten. Sollte sich das nicht von selbst verstehen? Sollten wir nicht alles, was uns eine andere Nation Gutes geboten hat, unbedingt als solches anerkennen und ohne Skrupel benützen können. Ohne Skrupel schon deshalb, weil wir uns ja nichts schenken lassen und den anderen Völkern von unserem reichen Schatz der Kultur im vollsten Mass Gegenleistungen bieten. Es liegt in der Hinnahme fremder Kulturgüter nicht bloss die Anerkennung, sondern auch die Ausübung eines Rechts auf deren Mitbesitz, den wir uns nicht schmälern lassen dürfen. Mit Goethe dürfen wir sagen:

Selbst erfinden ist schön, doch glücklich von andern Gefundnes

Fröhlich erkannt und geschätzt, nennst Du dies weniger Dein?

Und ebenso berechtigt und lächerlich wie die Frage, ob man Shakespeare spielen dürfe, wäre die Frage, dürfen wir englische Closetts benützen, uns der Schutzpockenimpfung Jenners oder der Antisepsis Listers unterziehen? Dass jene Frage aber gestellt werden konnte, ist ein Zeichen der Zeit.

Einen Trost für die Zukunftsaussichten der Internationalität bietet der Umstand, dass die mit grossem Elan von den Überpatrioten angefachte Boykottbewegung gegen fremde Waren an dem materiellen Interesse der Kaufleute scheitert. Diese weisen nämlich glaubhaft nach, dass man durch eine solche Bewegung nicht nur den fremden Handel sondern auch den Handel des eigenen Landes schädigt, der sein Kapital bereits in fremden Waren angelegt hat. Einen stichhaltigen Einwand wird aber auch die heimische Exportindustrie erbringen können, da sie kaum mehr in der Lage sein würde, die Produkte unserer Länder zu verkaufen, wenn wir von den fremden Ländern nichts kaufen wollen. So schadet denn dieser gutgemeinte Kampf gegen die Internationalität der eigenen Nation. Ein Beweis für die höchst realen Grundlagen des Internationalismus und damit seiner Unerschütterlichkeit.

Ich bin neugierig, ob die «Friedens-Warte» erscheinen kann. Umfrid berichtet mir, er habe Schwierigkeiten mit der Militärzensur. Es wäre verboten, über den Friedensschluss zu sprechen. Ja, wovon denn soll man sprechen?