Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Oktober.

Dieser traurige Einzelfall greift tief in meine Anschauung über den Krieg ein. Alles, was ich bisher gegen diese Einrichtung gefühlt habe, so packend, drastisch, ergreifend ich es empfunden habe, es war doch nur Theorie. Durch den Tod dieses einen Mannes wurde mir der Krieg Erlebnis. Er zeigt sich mir noch grausamer, noch fürchterlicher als ich ihn bisher angesehen, und noch dümmer.

Da wächst ein Mensch in die Höhe. Spät geboren. Seine Jugend traf den Vater schon im hohen Greisenalter. Mit aller Mühe und Sorgfalt wird er erzogen. Aus schwächlicher von Lebensgefahren arg bedrohter Kindheit durch mütterliche Sorgfalt gerettet. Welches Glück bedeutete in späteren Jahren angesichts des herangewachsenen, stattlichen, schönen und gesunden Jünglings dieses Bewusstsein der schwer durchgeführten «Rettung» für die Mutter. Die geistige Entwicklung wird mit aller Sorgfalt gepflegt. Beamtengehalt und Beamtenpension müssen herhalten, dem Jüngling eine bürgerlich feste Zukunft zu sichern. Das wird nicht leicht. Aber die Eltern überwinden die karge Gegenwart, um der «Zukunft» des Sohnes willen. Er kommt zur Universität. Das Studium der deutschen Literatur erweckt sein Interesse für die Bühne. Er will Schauspieler werden. Der übliche Konflikt mit den Eltern. Diese, um die «Zukunft» bange, verlangen, dass der Sohn erst seine Studien vollende. Dann könne er, wenn er dann noch wolle, seiner Neigung folgen und Schauspieler werden. Bernhard v. Jacobi beendet das Universitätsstudium. Wird Germanist und Dr. der Philosophie. Das Doktordiplom in der Tasche eilt er zu Reinhardt nach Berlin und wird Schauspieleleve am Deutschen Theater. Neue Kämpfe beginnen. Jahrelange Kämpfe um die Stellung im neuen Beruf. Es gelingt ihm, auch diese zu überwinden. Er ist ein Könner. Der Erfolg wird ihm zuteil und das Glück der Liebe. Zwei Junge verbinden sich, auf nichts bauend als auf die Kraft ihrer Liebe und auf das Können des jungen Mannes. In München findet er am Hoftheater Stellung und Anerkennung. Er gehört zu den Lieblingen der Stadt. Sein Heim ist ein trautes Nest, in dem drei Menschen dem Glück leben. Zwei davon dem Glück des Dritten, das sich eingefunden. Sonnige Tage. Da ein Schlag. In diesem Frühjahr stirbt das Dritte, das geliebte Kind. In den stillen Tagen des Sommers glitt der Schmerz allgemach dahin zu neuen Hoffnungen. Die Wunde beginnt zu narben. Die Liebe überwindet den Schmerz. Das Glücksgefühl der Jugend triumphiert.

Da macht ein Schuss oder ein Eisenhagel oder Messerstich auf Frankreichs Boden all dem komplizierten Werden, Ringen, Siegen, all dem Hoffen, dem Glück der Liebe, dem Atmen ein kurzes Ende.

Und das ereignet sich jetzt täglich, hunderte-, tausendmal, hat sich in Europa in diesen drei Monaten des Wahns wohl schon in die hundertausende Mal ereignet, und die übrige Menschheit sieht es, erträgt es, ohne zum Rasiermesser zu greifen, zum Gift, zu allen möglichen Mitteln des beschleunigten Untergangs, um sich so rasch wie diesen Gesichten zu entziehen?!

Und es gibt Leute, die uns diesen Gipfelpunkt der Dummheit als die tiefste Weisheit der Weltordnung darstellen wollen, die Hohes, Grosses, noch Erlebtes zu schauen vorgeben, wenn hier durch die Gewalt tiefsinnig konstruierter Maschinen Vernichtung in die warmen, jungendlichen Menschenleiber hineingetragen wird, an deren Atem wieder andere Menschen mit ihren Hoffnungen und ihrem und ihrem Sein zu Scharen hängen. Sie wollen uns weis machen, dass hier höhere Vernunft darin liegt und rufen Gott an, um ihm zu danken, dass er sie so Herrliches erleben liess, um ihn zu bitten, ihre eigenen Maschinen wirkungsvoller, hinmähender sein zu lassen als die der Andern. Und diese durch die Schule der Jahrtausende gegangene Menschheit sieht nicht den Frevel, nein — mehr als das — sieht nicht die bornierte Dummheit, mit der sich hier eine Generation selbst zerfleischt. Sie, die die Sterne misst und den Luftraum überwindet, begnügt sich, die «Opfer» auf beiden Seiten zu vergleichen und zufrieden zu sein, wenn die Zahl der andern Seite grösser ist als die der eigenen. Diese in die Geheimnisse der Natur eingedrungene Menschheit erkennt nicht, dass jeder Teil sich die Opfer auf beiden Seiten zur Last schreiben muss, dass die fehlenden Hände, die fehlenden Köpfe, die fehlende Zeugungskraft die Menschheit ohne Unterschied der Grenzen verarmen macht und des Gemetzels Ergebnis ein Gesamtdefizit der lebenden und der demnächst kommenden Generation bildet. Sie sieht nicht, wie sie, um den Sieg ringend, nur sich selbst besiegt, nur sich selbst erniedrigt und immer tiefer steigt.

Sie sieht es nicht, denn in dem Wahn des Kampfes sind die Augen der Kämpfer mit einem Schleier umgeben, ihr Verstand ist umnachtet, ihr Empfinden purpurrot durchglüht. Sie wehren sich instinktiv alle gegen das an ihnen verübte Verbrechen und betrachten den ihnen hingesetzten Gegner als dessen Urheber. Sie ahnen nicht, dass das Übel in ihnen selbst den Motor hat, und dass ihr fanatisches Bestreben, sich diesem Antrieb zu entziehen und sich gegen die auf sie niederrasselnden Schläge zu wehren, sie immer weiter hineintreibt in die Schrecken, denen sie zu entfliehen suchen, bis eines Tages die wohltuende Erschöpfung dem Wahn ein Ende macht, und der Sonnenaufgang über den Leichenhügeln von tierisch entarteten Augen wieder wahrgenommen werden wird.

Es ist Einheit in diesem Wahntreiben. Der grosse Irrtum liegt darin, dass sich jeder davon Erfasste als Teil betrachtet und die Ursache alles Übels nur im Andern erkennen will. Es ist Einheit darin. Dieser Wahn ist eben nur als Komplex erkennbar, nicht vom Standpunkt der einen oder der andern Seite. Im Kriege gibt es gar keine Gegner, sondern nur Mitarbeiter an der Vernichtung. Harmonisch Mitwirkende an der grossen Disharmonie des Geschehens. Harmonisch Zusammenwirkende an der Symphonie des Wahnsinns. Es ist Einheit darin. Sie glauben, die andern zu töten und töten sich, sie glauben die andern zu schädigen und schädigen sich, sie glauben die andern zu besiegen und besiegen sich.

Und all dieses Zusammenwirken, das sich in der falschen Richtung bewegt, könnte sich, richtig eingestellt, zu der Harmonie des Heils, des Glücks, der Vervollkommnung, der Liebe und der Gemeinschaft bewegen. Arme betrogene Menschheit!

Und aus dem Irrtum kann nur Irrtum erspriessen.

Sie täuschen sich alle über die Opfer hinweg mit dem Sieg, den sie zu erringen suchen. Der Sieg soll ihre Zukunft sichern. Aber der Sieg, der soviel Vergangenheit verschwendet, kann nie eine Zukunft sichern, da er den Hass gebiert, der alle Sicherheit frisst. Die Sicherung der Zukunft ist nur möglich, durch freie Gegenseitigkeit aller, also durch einen Sieg über sich selbst. Ihr irrt Euch, wenn Ihr meint, Ihr werdet umso sicherer sein, je mehr Tote ihr dem Feind bereitet. Die Toten führen zwar kein eigenes Leben mehr, aber ihre Wirkung bleibt. Sie bilden den grossen Antrieb des Hasses, der dem Sieger niemals Ruhe gibt. Und Euere Toten sind daher umsonst geopfert. Sie helfen Euch nicht die Sicherheit der Zukunft bauen, und fehlen Euch in Eurem Hause als Arbeiter, als Denker, als Zeuger. Sie fehlen Eurem Hause als Bewahrer des Kapitals der Vergangenheit, das in ihnen aufgespeichert lag, und das der nationalen Gemeinschaft, der Menschheit dankbar zu verzinsen und zurückzuzahlen Ihr ihnen unmöglich gemacht habt. So fehlen sie Euch nicht nur beim Dach, sondern auch beim Fundament. Und Ihr werdet diese Lücken wieder auszufüllen suchen durch neue Gewehre und Kanonen!

Menschenvergeuder! Ihr seid auf falscher Bahn, wenn Ihr glaubt, Ihr könnt die warmen Leiber Eurer Gemeinschaft durch harten Stahl ersetzen.

Ihr seid auf falscher Bahn, wenn Ihr all Euer Wissen und Forschen, Euer Durchsuchen des Himmels und der Unendlichkeit, Euer Durchforschen der prähistorischen Zeit, Euer tiefstes Schürfen in der menschlichen Seele und das bewundernswerte Klügeln in der Tiefe des Geistes nur der Artillerie zugute kommen lässt.

Der Menschheit grösstes Kapital, so lehrt uns Goldscheid, ist der Mensch.

Der Rausch jagt weiter.

In den «Hamburger Nachrichten», eines jener Blätter, mit denen die Nation nach dem Kriege wird ernste Abrechnung halten müssen, findet sich (14. Oktober) ein Artikel «Gefühlsverwilderung» betitelt. Verwilderung! Er wendet sich gegen das Mitgefühl mit dem Feinde. «Für uns sind unsere Tapfern — allein Menschen.» Ist solches Tun nicht eine Schmach für das deutsche Volk. Fünfzig Jahre nach der Gründung der Genfer Konvention, über deren Verletzungen durch den Feind jenes Blatt sicher, empört aufgeschrien hat, wird solches in einem deutschen Blatt — oder sagen wir lieber in einem in Deutschland erscheinenden Blatt geschrieben. Der Artikel warnt dann davor, jetzt schon «unsere Gefühle gegen die Belgier von heiliger Vergeltung und Sühne vollstreckendem Zorn in weiches Mitleid umwandeln zu wollen.» Warnung vor Mitgefühl und die Behauptung, dass dieses Volk «von den deutschen Waffen noch sehr milde Strafen erhalten hat.» Dann kommt eine Anrempelung der «Friedens-Warte», weil ich darin den Satz geschrieben habe, ich fühle den Schmerz der Besiegten mit. — «Muss es wirklich auch solche Käuze geben?» fragt der Artikelschreiber. Ja, die muss es geben, und es gibt deren — zu Ehren unseres Volkes sei es gesagt, — mehr als die «Hamburger Nachrichten» ahnen. Wir hören auch im Kriege nicht auf, Menschen zu sein. Das soll schon vor fast 2000 Jahren einer gelehrt haben, auf dessen Lehren sich, wie behauptet wird, der moderne Staat aufbaut.