Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. Januar.

Aus den Neujahrskundgebungen Kaiser Wilhelms und des Präsidenten der französischen Republik — beide Kundgebungen waren an die betreffenden Heere gerichtet — leuchten mir zwei Sätze besonders entgegen:

Kaiser Wilhelm: «Noch strecken die Feinde von West und Ost, von Nord und Süd in ohnmächtiger Wut ihre Hände nach allem aus, was uns das Leben lebenswert macht».

Der Präsident: (Durchhalten!); «denn jedermann hat erkannt, dass der Einsatz dieses Kriegs ein furchtbarer ist, dass es nicht allein unsere Würde, sondern unser Leben gilt».

Um das Leben und dessen Werte geht es also nach beiden Äusserungen. Das musste man wissen, als der Krieg begann. Hat man bei Kriegsbeginn alles getan, um dieses Ringen um das Leben vermeidbar zu machen? Noch mehr, hat man in den Jahrzehnten des drohenden Kriegs wirklich alles versucht, um Sicherungen zu finden gegen ein Unheil, das das Leben der Nationen zu beeinträchtigen vermag? Verbohrte man sich nicht in die trügerische Hoffnung, dass die Vorbereitung des Kriegs die beste Garantie gegen den Krieg selbst sei, während es nichts Natürlicheres gegeben hätte, als das Gemeinschaftsinteresse, das alle Staaten an der Vermeidung eines Daseinskampfes hatten, in den Dienst der Kriegsverhütung zu setzen? Das war es, was wir aus tiefstem patriotischem Empfinden heraus gewollt haben. — Man hörte uns nicht.

Wird man künftig auch nicht hören wollen? Ich hoffe doch. Viele Anzeichen sprechen dafür:

Vor den Delegierten des pan-amerikanischen wissenschaftlichen Kongresses sprach Elihu Root am 30. Dezember in San Francisco. Er wies auf die Gebrechlichkeit des Völkerrechts hin, das sich im europäischen Krieg so ohnmächtig erwies. Nach Beendigung der Feindseligkeiten, so führte er aus, müssten alle Kulturnationen gemeinsame Massnahmen ergreifen, auf dass die Welt fortab durch ein Weltgesetz regiert werde, das die Rechte und Freiheiten der Völker und nicht die ehrgeizigen Ziele ihrer Regierenden zum Ausdruck bringe. Jeder Staat, der sich diesem Gesetz nicht unterwirft, soll als ausserhalb der Völkerrechtsgemeinschaft stehend angesehen werden.

In einem Neujahrsartikel des «Berliner Tagblatt» (1. Januar 1916) vertritt der frühere Staatssekretär Bernhard Dernburg pazifistische Gedanken. Er bemängelt die Haltung Deutschlands gegenüber dem Haager Konferenzwerk, die «Deutschland nicht den Ruf der Ehrlichkeit, sondern der Rauflust eingetragen» hat. Er weist auf die Notwendigkeit hin, dass Deutschland Kriegsverhinderungsverträge im Sinne der von Bryan vorgeschlagenen eingehe und stellt die hohe Bedeutung der sogenannten dilatorischen Behandlung zwischenstaatlicher Konflikte in den Vordergrund. «Sie gäbe Zeit zur Besinnung und zur Vermittlung, und daran hat es vielleicht im August 1914 überall gefehlt». Es ist erfreulich, dass dies jetzt offen gesagt werden kann. Als «Sanktion» für die Erfüllung von Schiedsurteilen weist er auf die alte pazifistische Forderung des Verkehrs- und Handelsboykotts hin, und bezeichnet diese als zu jenen Mitteln gehörig, «die erwogen werden müssen, wenn man die Frage des Kanzlers aufgreift, wie man in der Zukunft einem ebenso sinnlosen wie verderblichen Krieg vorbeugen kann».

Zum Schluss bemerkt Dernburg in richtiger Erkenntnis der Dinge: «Es ist nicht die Macht, die hinter den Verträgen steht, die ihren Wert bestimmt, sondern die Treue und Gewissenhaftigkeit derer, die sie abschliessen, und die Treue und Gewissenhaftigkeit der Nation, die sie trägt ...» Er hätte noch hinzufügen können, dass der Wert der Verträge auch bestimmt wird durch die Erkenntnis ihrer realen Wertwirkung. Man wird nach diesem Krieg vielleicht besser als vorher annehmen können, was gehaltene Verträge in Mark und Pfennigen bedeutet haben und bedeutet hätten.

So drängt allenthalben die pazifistische Lehre an die Oberfläche. So wird sie Einfluss nehmen auf die künftigen Geschicke des Erdteils, der Welt. Wenn diese Erkenntnis nur nicht so teuer bezahlt werden müsste, und wenn es alsdann nicht vielleicht zu spät ist.