Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 19. Dezember.

Gestern die Korrektur der «Friedens-Warte» bekommen. Diese «Doppelnummer» mit ihren 8 Seiten statt 80 sieht aus wie ein gerupfter Vogel. — Den Artikel von Marschall von Biberstein hat das Auswärtige Amt passieren lassen. So erscheint er und wird dem Willen des Gefallenen Genüge geschehen. Was ich künftig tun werde, weiss ich nicht. Das Blatt in die Schweiz zu verlegen, widerstrebt mir. Ich will nicht aus der Verbannung schreiben zum Gaudium des Auslandes. Obwohl die Art, wie in Berlin Zensur geübt wird, einen geradezu dazu zwingt. Ich will diesen einzig rettenden Gedanken für die arme irregeführte Menschheit in Deutschland und Österreich, in meinem Volke vertreten. Dabei sehe ich doch ein, dass man sich bei der Kritik in dieser Zeit, wo die blutenden Menschenleben zu tausenden hingemäht werden, Mässigung auferlegen muss. Diese Rücksicht wird einem allerdings schwer gemacht, wenn man den unqualifizierbaren Schwefel liest, der heute die Zeitungen erfüllt, die Dummheit und Niedertracht bemerkt, wie sie sich unter dem Schutze der Kriegspsychose bläht und breitmacht und die armseligsten Geschöpfe die günstige Gelegenheit ergreifen, an die Oberfläche zu treten mit Lug und Trug und von den niedrigsten Instinkten getrieben dem Götzen des Tages huldigen, einer aussätzigen Hure ihre katzbuckelige Reverenz erweisen. Welch physischer Widerwillen überwältigt einen angesichts all dieser Braven, Gutherzigen, Demütigen, Schweifwedelnden! Und zu alledem soll man schweigen; wo man so sehr berechtigt, so verpflichtet wäre, zu reden, zu schreiben! —

Gestern das französische Gelbbuch zu lesen begonnen. Die Vorgeschichte des Kriegs aus 1913. Es ist nicht zu bezweifeln, das Rüstungssystem hat den Krieg gemacht. Die Milliardenvorlage des vorigen Jahres hat Frankreich mit Recht erschreckt. Die Handlungen des Schreckens mit begreiflichen Abwehrmassnahmen haben in Deutschland die Idee gefestigt, man plane einen Überfall. Schliesslich musste der Moment kommen, wo man den Überfall für bevorstehend hielt. Die Gefahr lag daran, dass sich in Deutschland die militärische Lehre durchgerungen hat, man könne sich nur dann siegreich behaupten, wenn man zur raschen und überraschenden Offensive greift, und die durch die Verkehrsverhältnisse bedingte Langsamkeit der russischen Mobilisierung ausnützt. Diese Lehre — einerlei ob sie begründet oder unbegründet ist — spitzte die Gefahr zu. Denn dann musste Deutschland den Krieg beginnen, ehe noch alle Mittel zur friedlichen Beilegung erschöpft waren. Sagen wir, der Punkt, wo dieser Fall eintritt und der Krieg unvermeidlich ist, hiesse 100; so musste Deutschland, entsprechend seiner militärischen Gesichtspunkte, schon bei 90 oder gar 85 den Krieg beginnen, um sich die von ihm als notwendig angesehenen Vorteile zu sichern. Wenn man aber bedenkt, dass die heutige Kunst zur Erreichung diplomatischer Vorteile in einem gegenseitigen Bluffen besteht, in dem Glaubenmachen, dass man bereit sei, seine politischen Absichten unter allen Umständen durch das Schwert durchzusetzen, diese Methode aber im Laufe der Jahre schon zu durchsichtig geworden ist, so dass sie ihre sofortige Wirkung eingebüsst hat, so müsste sich die Krisis, ob Krieg oder Verständigung, gerade im letzten Zehntel von 100, vielleicht erst bei 99 vollziehen. Soweit konnte es aber nach der von deutscher Seite für entscheidend angesehenen Methode nicht mehr kommen. Es besteht kein Zweifel, dass es, wenn man die Entwicklung nicht bei 75 abgebrochen hätte, vor der Erreichung der 100 — wenn auch nur knapp vor dieser — zu einem Ausgleich gekommen wäre.

Die Überzeugung, dass Deutschland nicht so lange warten könne, ohne sein Interesse zu schädigen, mag richtig sein — ich bezweifle es — aber es darf die Tatsache nicht bestritten werden, dass durch diese Überzeugung die Friedensmöglichkeit vorzeitig abgeschnitten wurde. Und in diesem «vorzeitig» liegt das Grässliche, liegt der Schlüssel zu diesem Kriege.

So lagen die Dinge an jenen unseligen Augusttagen, und so erklärt sich und ergibt sich Deutschlands Mitschuld.

Sicherlich wird eine spätere Zeit über die gegenwärtig massgebende Militäranschauung von der unbedingten Notwendigkeit, den Ereignissen vorzugreifen, anderer Meinung sein. Sie wird sich sagen, dass das Risiko eines Kriegs mit dem schwächsten Schein der Hoffnung auf seine Vermeidung noch mehr wert ist als die günstigste Anfangschance, die auf die weitere Möglichkeit der Vermeidung kein Gewicht legt. Man wird über die jetzt geltenden Methoden streng urteilen.

Aber wir Zeitgenossen werden von dieser späteren Erkenntnis wenig Vorteil haben. Wir sagen uns, dass die Zeit der Kabinetts-Kriege schon glücklich überwunden ist. Eine spätere Zeit wird aber auch die Generalstabskriege überwunden haben, unter denen wir leiden.

Das ist die grosse Gefahr, dass es eine Kaste von Menschen gibt, die das Machen von Geschichte zum Beruf erwählt hat. Die Auffassung dieser Leute von jenen Vorgängen, die sie für Geschichte halten, und von den Pflichten ihres Berufes sind falsch. Sie halten noch immer an der irrtümlichen Idee fest, dass das Herumschieben von Menschengruppen, das Andersaufteilen von Ländern, das Herumlaborieren an dem natürlichen Gruppierungs- und Niederlassungsprozess Geschichte sei. Man hat in naiven, sehr höfisch gesinnten Zeiten diesen falschen Gedankengang gehegt und ist seitdem dabei geblieben, weil das Geschäft seinen Mann nährt und überdies sehr angesehen und interessant ist. In Wirklichkeit ist das, was man Geschichte nennt, nicht der Vorgang der Entwicklung der menschlichen Gruppen, sondern ein störendes Hineinpfuschen in diese Entwicklung. Die Leute, die da wähnen, in diesem Sinn Geschichte zu machen, halten sie nur auf. Die Menschheit wäre in ihrer Entwicklung sehr viel weiter, wenn diese berufsmässigen Geschichtemacher sie in Ruhe lassen wollten. Die grossen Fragen und Probleme, die die Menschheit fortwährend mit Konflikten bedrohen und heimsuchen, sind zumeist nur Erfindungen dieser berufsmässigen Geschichtemacher, Spekulationen, die ihnen als Folie für ihr Dasein dienen. In Wirklichkeit sind alle diese Dinge gar nicht so wichtig, gar nicht so aufregend, erst das Indenvordergrundstellen, ihr Insaugefassen von einem gewissen, immer einseitigen Gesichtspunkt, die jahrhundertelange Bearbeitung der Psyche der Geschichtsobjekte lassen sie so schwierig, so wichtig, so blut- und eisenmässig erscheinen. Und wenn man die Menschen erst einmal in Ruhe lassen wird mit all diesen politischen Schlagworten, mit diesem Traditionsballast, mit der ganzen schiefen Weltanschauung der Geschichtemacher, wird man erstaunt sein, dass es auch ohne diese Eingriffe geht, ja dass das normale Leben der Menschheit dann erst recht zur Entwicklung kommen wird, befreit von all dem Alpdrücken der politischen Manien. Die Entwicklung der Baumwollpflanzung und des Reistransportes, der Petroleumausbeutung und Wasserkraftverwendung wird sich alsdann als das Wichtigere erweisen, und die Erfindung des Knopfes oder des Wagenrades wird eine grössere Bedeutung gewinnen als die Schlachten bei Mantinea, Chalons und Leipzig.

Der Beruf des Zunftdiplomaten, des Geschichtemachers, wird brotlos werden, aber die Menschheit wird in ihrer Gesamtheit zum ersten Mal ausreichend Brot besitzen.