Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 18. Mai.

Der achtzehnte Mai! Der internationale Friedenstag, der Tag der Eröffnung der ersten Haager Konferenz. Wehmütige Vergleiche drängen sich auf. Damals vor sechzehn Jahren im Haag. Hoch oben auf der Laternengalerie des Saales im «Haus im Busch». Der Salon Suttner im Hotel Central. — Und doch haben uns unsre Hoffnungen nicht betrogen. Das bekenne ich noch heute mitten im Weltkrieg. Das war damals die erste siegreiche Etappe. Von dieser datiert der grosse Aufschwung der Bewegung. Sie war noch nicht stark genug. Das Zünglein der Wage neigte sich noch einmal zu gunsten der Kriegsanhänger, um sie zu vernichten. Denn dieser Krieg vernichtet den Krieg. Man wird den 18. Mai doch dereinst feiern, bis man ihn allenthalben begriffen haben wird.

Deutsche Zeitungen nationalster Richtung melden mit einem gewissen Behagen und mit sichtlicher Billigung die Nachricht des römischen «Avanti», wonach einberufene Reservisten gegen den Krieg demonstrierten, in Rufe «abasso la guerra!» ausbrachen. Das wird gebilligt, wenn es sich um den Krieg Italiens und um italienische Sozialisten handelt. Wenn deutsche Sozialisten im Bürgerkleid vor dem Krieg, nur angesichts der drohenden Kriegsgefahr, gegen den Krieg demonstrierten, so wurden sie von der selben Presse als Verräter behandelt.

Der Zustand mit Italien ist in ein aufregendes Stadium getreten. Übermorgen tritt das Parlament zusammen. Was wird ihm mitgeteilt werden, was wird es entscheiden? Krieg oder Frieden? —

Zu den Äusserungen von Vertretern der verschiedenen Konfessionen über den Krieg, die ich hier schon vermerkt habe, seien nun auch die Ausführungen eines Rabbiners hinzugefügt. Über einen Vortrag, der das Thema «Der Weltkrieg und das alte Testament» behandelte, den der Rabbiner Dr. Werner am 5. Mai in München gehalten hat, berichteten die «Münchener Neuesten Nachrichten» (7. Mai). Eine Stelle aus diesem Bericht besagt folgendes:

«Stets auf das Ideal gerichtet, vergisst die Bibel nicht die Wirklichkeit! So sieht das Buch der Bücher, das die Geschichte eines Volkes in sich trägt, das selbst die Freiheit sich erobern und dann verteidigen musste, die harte Notwendigkeit des Kriegs, es richtet aber auch über den Krieg: den grundlosen Krieg verdammt es; es gestattet den Krieg, der die Feinde abwehren will, und den Krieg, der für die Ehre, für die Freiheit und Selbständigkeit des Volks notwendig geworden, heiligt es.

Alle Völker behaupten nun diesmal, einen sittlichen Grund für ihre Teilnahme an diesem Weltkrieg zu haben. Aber Deutschland hat das ,weisse Buch der Wahrhaftigkeit’, in das die Weltgeschichte einst das Wort im Sinn des alten Testaments einschreiben wird: Deutschland hat den Krieg geheiligt, denn es kämpfte um seine Freiheit, und sein Kaiser wollte mit der Friedenskrone geschmückt sein!

Eine Frage aber regt sich noch in uns, im Gedenken an all die im Massentod des Kriegs dahingeraffte Jugend, die Frage nach der ewigen Vorsehung. Sie beantwortet das alte Testament ebenso wie es die Frage nach dem im friedlichen Leben dahingerafften unschuldigen Kindlein beantwort: ,Das Unendliche kann kein Mensch schauen, solang er lebt’. Aber noch andere göttliche Gedanken im Geist der Bibel löst das Erleben dieses Kriegs aus. Den Gedanken vor allem, der tiefen Sinn und Inhalt gibt: Leben heisst für andre leben, leiden und sterben heisst für andre leiden und sterben! Und auch dieser andre Gedanke des Testaments bleibt bestehen. Nicht Gott will den Krieg, sondern der Mensch. Frei ist sein Wille! Die Völker, die den Krieg gewollt, tragen die Schuld!»

Als ob man irgendwo die Völker gefragt hätte! - Wo denn? — «Nicht Gott will den Krieg»? Andre sagen wieder, er wäre «ein Element der göttlichen Weltordnung»! «Sterben heisst für andre sterben»? Also für das Wohl des Vaterlands. Das können dann auch unsre Gegner sagen. Nun gibt es aber Besiegte, deren Vaterland kein Wohl erreicht. Wofür sind diese dann gestorben? — Und die schöne Floskel vom «grundlosen» und vom berechtigten Krieg. Jeder Staat führt einen Krieg, den er für berechtigt hält. Wer ist da im Irrtum? — Es ist übrigens merkwürdig, was man aus der Bibel alles herauslesen kann!