Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. Dezember.

Das Hilfsdienstgesetz ist gestern in dritter Lesung nach langen und teilweisen heftigen Erörterungen angenommen worden. Alle Parteien mit Ausnahme der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft stimmten dafür. Das Gesetz hat während der Beratungen gegenüber der ursprünglichen Absicht seine Form verändert, nicht sein Wesen. Man hat ihm ein etwas zahmeres Äusseres gegeben. Während es in der ursprünglichen Idee etwas struppig aussah, erscheint es jetzt frisiert. Wie der frisierte Löwe, den Oberländer einst für die «Fliegenden Blätter» gezeichnet hat. Zur Frisur gehörte in erster Linie die Namensänderung. Es heisst jetzt «vaterländischer Hilfsdienst» was ursprünglich «Bürgerzwangsdienstpflicht» hiess. Aber der Zwangsdienst ist geblieben. Gegen zu grosse Missbräuche hat der Reichstag einige Kautelen geschaffen. Dass Härten nicht zu vermeiden sein werden, darüber war man sich klar. Aber man fand sich mit der an sich richtigen Erwägung ab, dass es sich um ein Gesetz der Not handelt, wie es der Staatssekretär Helfferich zu Eingang der Beratungen ausdrücklich betont hatte.

Das Gesetz ist eine Beschränkung der Freiheit eines ganzen Volks, wie es einschneidender und umfangreicher in der Geschichte aller Völker bisher unbekannt war. Man sagte sich aber, warum soll der Bürger seine Freiheit nicht opfern, wenn Millionen bereits ihr Leben und ihre Gesundheit geopfert haben, und weitere Millionen zur Hingabe an Leben und Gesundheit bereit sein müssen. Das ist logisch, nur muss man sich klar darüber sein, dass es die Logik der schiefen Ebene ist. Man wird sich immer sagen müssen, dass diese gefährliche Logik ihren Ursprung hat in der Heilighaltung der Institution des Kriegs. Aus diesem Irrwahn lösen sich dann Vernichtung, Zerstörung, Versklavung los unter Zwangsmassnahmen, die im Rahmen der Verwirrung vernünftig erscheinen können, aber ihrem Ursprung und ihrem ganzen Wesen nach das Unvernünftigste sind, das begangen werden kann.

Inmitten all der Preisungen des neuen Gesetzes als Blüte der Sittlichkeit und inmitten der fatalistischen Abfindung mit dessen Notwendigkeit als Ergebnis des Kriegs hat man die gebieterisch sich aufdrängenden Fragen über den Urgrund all dieser schweren Entschließungen unterlassen. Es ist der Krieg, der Leben, Gesundheit, Wohlstand und Freiheit fordert. Wir können nichts dafür. Es ist der Krieg! Ganz richtig. — Aber habt ihr alles getan, um diese Einrichtung, die so Unerhörtes, so Wahnwitziges fordert, auszuschalten aus dem Leben moderner Völker? Habt ihr wirklich im entscheidenden Augenblick alle Mittel erschöpft, um einen Zustand zu vermeiden, der solche Folgen nach sich zieht? Habt ihr euch nicht in jenem kritischen Augenblick von romantischen Ideen, wie Waffenehre, Prestige, Grossmachtstellung mehr beeinflussen lassen, als von der Furcht vor Lebensopfer in unerhörter Zahl, vor Gesundheitsopfer, Wertevernichtung, Freiheitshingabe der Völker? Oder wart ihr euch des Umfangs dieser Opfer nicht bewusst? — Habt ihr nicht jahrelang die fixe Idee genährt und grossgezogen, dass ein Krieg in diesem so eng miteinander verknüpften Europa kommen müsse, und habt ihr nicht dadurch die Abwehrkräfte gelähmt, die ihn im kritischen Moment hätten vermeidbar machen können? — Habt ihr nicht mit allem Nachdruck in der Schule, in der Kirche, in der Presse den kriegerischen Geist genährt und grossgezogen, der den Krieg als etwas Natur gewolltes, Grosses, Schönes, Wohltuendes, Reichtümer und Wohlstand Erzeugendes, als etwas Heiliges, als «ein Element der göttlichen Weltordnung» pries? — Und habt ihr nicht auch dadurch den Widerstand gegen das Unheil gelähmt? Habt ihr je eine Politik getrieben, die jede Regung von furcht bei den Nachbarnationen beseitigt und diese bereit gemacht hätte, Gemeinschaftsabkommen zur Vermeidung des Kriegs mit euch einzugehen, oder habt ihr eine Politik der Drohung, des trocken gehaltenen Pulvers und des scharf geschliffenen Schwerts vorgezogen, die die andern Nationen sich in Furcht zusammenschließen liess, was wieder euch als Bedrohung erscheinen und den Krieg herbeiführen musste? Habt ihr, in Kenntnis all der unsagbaren Opfer, die ein Krieg den Völkern auferlegen muss, durch eure Diplomatie, die Geschäfte dieser euch anvertrauten Völker durch Klugheit und ernsten Friedenswillen führen lassen, oder habt ihr einer Diplomatie in Hemdsärmeln den Vorzug gegeben, die den Unwillen der andern Völker und somit die grosse Gefahr zeitigte, unter der ihr heute «sittlich» und «logisch» handelt, wenn ihr Tod, Siechtum, Armut und Versklavung fordert?

Alle diese Fragen sind bei der Beratung dieses Gesetzes nicht gestellt worden. Aber sie sind mit ehernen Lettern in den Erscheinungen dieser Zeit eingeschnitten und werden eines Tags Beantwortung heischen. Wie diese ausfallen wird, ist nicht schwer zu erraten. Nachdem der Wahnsinn des Kriegs in unserer Zeit mit all seinen unerhörten Forderungen nun einmal erkannt ist, wird es darauf keine andere Antwort geben können, als den radikalen Willen und die radikale Tat zur endgültigen Ausrottung des Kriegs aus der Kulturgemeinschaft, zur Verabscheuung aller Versuche, ihn zu rühmen, und die Behandlung jener als schwerste Verbrecher, die künftig für ihn eintreten sollten.