Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

7. August 1914.

Ein fürchterliches Weh erfüllt mich. Der Krieg lastet wie ein Zentnergewicht auf mir. Als ob alle Lebenswerte erstickt wären. Wenn ich morgens erwache, erlebe ich täglich die gleiche Erscheinung: Einen Augenblick lang das Gefühl von Behaglichkeit. Nur einen Augenblick; dann tritt der Gedanke an den Krieg in das Bewusstsein, und wie mit einem Ruck fällt das Behaglichkeitsgefühl von mir. Der psychische Druck beginnt. So geht es mir, wenn ich des Tags durch Lektüre oder Gespräche für Minuten die Lage vergesse. Sofort rückt wieder der Gedanke an den Krieg vor und erdrückt mich.

Die Welt hat für mich einen ganz anderen Inhalt bekommen. Es ist nicht mehr die selbe Welt wie vorher, wie vor vierzehn Tagen. Wie durch einen Zauber sieht plötzlich alles anders aus. Die Berge vor meinem Fenster, das Grün der Wiese, die lieblichen Villen — alles sieht mich an wie die Reste eines Lebens, das ich einmal gelebt, und das für immer verloren ist. So muss einem Verbrecher zumute sein nach der Verurteilung. Er denkt an eine Aussenwelt voll Glanz und Glück, von der er ausgeschlossen ist. Auch ich komme mir so vor wie hinter ehernen Mauern, die mich von der Vergangenheit trennen.

Seit dem 25. Juli, dem Tage des Abbruchs der austro-serbischen Beziehungen, war es mir nicht mehr möglich, eine Arbeit vorzunehmen, ein Buch zu lesen. Ruhelos lungere ich herum, ich lese die Zeitungen und warte auf die neuen Ausgaben der Blätter. Keine Sammlung zur Arbeit, nicht zum Denken. Ich bin ja darum noch schlechter daran als die andern, die sich mit dem abfinden, was jetzt vor sich geht: mit der Trennung der Familien von ihren einrückenden Lieben, mit dem Stillstand der Wirtschaft. Ich sehe ja schon das Kommende, all das Elend des im Gang befindlichen Kriegs und seiner Endlosigkeit über ein Jahr hinaus. Das zerfrisst mich.

Wir haben zu früh gejubelt. Wenn ich jetzt meinen Artikel «Die Überwindung des Balkankonfliktes» in der «Friedens-Warte» 1913 (S. 161) überlese, so fühle ich, dass ich die Friedenskräfte, deren Triumph ich sah, doch überschätzt habe. «Der vermiedene Krieg von 1913», so schrieb ich, «hat für alle künftigen europäischen Konflikte das Kriegsventil verrammelt.» Gefehlt! Heute, vierzehn Monate, nachdem ich diese Zeilen veröffentlicht habe, sind die fünf europäischen Grossmächte im Krieg, die sechste steht in feindseliger Neutralität zur Seite, zwei Kleinstaaten sind in den Krieg verwickelt und die übrigen Staaten ausser Griechenland und Spanien stehen mobilisiert Gewehr bei Fuss da. Ein furchtbares Zusammenprallen, an das vor vierzehn Tagen kein Mensch (einige vielleicht ausgenommen!) gedacht hat. Das ist das Fürchterliche dabei, diese Plötzlichkeit, diese Überrumpelung.

In dem oben erwähnten Artikel weise ich auf den Ruf «Los von Europa» hin, auf den Ruf nach einer «Politik der freien Hand», der von gewissen Presseorganen ausgestossen wurde, um die friedliche Einmischung Europas bei Erledigung von Balkanfragen abzuweisen. «Los von Europa!» Meine Friedensformel bestand gerade darin, dass jeder Konflikt zwischen zwei europäischen Staaten durch Internationalisierung seiner kriegerischen Lösung entrückt werde. Ich habe doch Recht behalten! Man konnte nicht mehr «Los von Europa!» kommen. Es hängt bereits so sehr zusammen, dass es, wo es den Frieden nicht vermitteln konnte, zum Weltkrieg zusammentrat. Europa ist da; aber zum gegenseitigen Zerfleischungskrieg.

Europa ist da! Das sieht man an den wirtschaftlichen Ereignissen. An dem Mangel von Nahrungsmitteln, an der Entwertung des Geldes, an der Stockung des Reise- und Nachrichtenverkehrs. Das millionenfach geknüpfte Netz ist zerrissen worden. Jetzt sieht man erst wie unser gesamtes Leben mit dem Leben der ganzen Welt innig und eng verknüpft ist. Das ist die erste Erkenntnis, die uns dieser Krieg gebracht hat.

Überhaupt, ein Anschauungsunterricht wird das werden! Ein fürchterlicher. — Bisher kannten unsere Zeitgenossen in Europa den Krieg nur aus der Ferne. Nun werden sie ihn in der Nähe sehen. Nun werden sie erkennen, was Bloch vor 17 Jahren gepredigt, was wir seitdem tausendfach vorgebracht haben.

Wie waren wir glücklich, die Verständigung zwischen Deutschland und England, zwischen Deutschland und Frankreich schon so weit entwickelt zu haben, dass wir bald auf Früchte rechnen durften. Wie schrecklich erschien uns der Gedanke, Deutschland nur mit einem dieser Staaten im Kriege zu sehen. Unausdenkbar! Und nun — ich vermag es nicht zu fassen: Das Reich mit drei Staaten in einem Krieg, mit den drei stärksten Militärstaaten der Welt und darunter die zwei reichsten. — Wenn es noch allein mit Russland wäre! Man könnte sich freuen, dass die Unkultur beseitigt werde. Aber die drei höchstentwickeltsten Kulturstaaten der Welt in mörderischem Vernichtungskampf. Nicht auszudenken dieses Unglück. Und dabei das Bewusstsein, dass der Krieg bei allen Staaten um die Existenz geführt werden wird. Also nicht enden kann, bis nicht die eine oder die andere Gruppe darniederliegt.

Vielleicht könnte ein grosser Staatsmann noch alles retten.

Ich hatte heute folgenden Gedanken: Deutschland soll um den Preis eines Bündnisses mit Frankreich und England Elsass-Lothringen zu einem neutralen Staat machen und so dann die europäische Kulturwelt vereint gegen Russland führen. Durch die baltischen Provinzen und ein Stück in Ostasien könnte Deutschland reich entschädigt werden. Der Weltfriede und die Zivilisation wären gerettet.