Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Weihnachten, 25. Dezember.

So wäre dieser gefürchtete Abend glücklich vorüber. Dieser Abend, der so ganz dem Empfinden von Liebe und Traulichkeit gewidmet ist, auf dem Wrack der Zeit, das uns dieser Krieg gelassen. Deutsche Weihnacht im Blut. Das Fest der Familie unter der Zerrissenheit und der Vernichtung des Kriegs. Wäre ich Machthaber, ich hätte mich vor diesem Abend gefürchtet, vor dem wilden Aufschrei der Verzweiflung und Empörung, der da durch die Herzen des Volkes — der Völker — gegangen sein muss. Ich möchte keiner dieser Regisseure des Kriegs sein, an deren Tisch gestern die verglasten Augen der Erschlagenen gestarrt haben mögen. Ich dachte an die hängenden Köpfe der trauernden Mütter, Gattinnen, Kinder, die geballten Fäuste der Flüchtlinge, die im fremden Land dieses Tags im vergangenen Jahr gedacht haben mochten, und an die Krüppel ohne Arme, ohne Beine, ohne Augenlicht. Mich erfasste die Erinnerung an die Millionen, die aus der winterlichen Stille heraus ihre Gedanken in die unwirtlichen Gegenden Polens, Serbiens, Flanderns, in die Konzentrationslager richten mussten, um jene zu erhaschen, die zu ihnen gehören!

Wer das ganze Elend dieses gestrigen Abends erfasst hat und sich bewusst wurde, dass es Menschen mit Willen und ruhiger Überlegenheit herbeigeführt haben, war nahe daran, den Verstand zu verlieren.

Unsere Gedanken zogen zu Lucy, die in dem selben Raum sass, wo sie im Vorjahr glücklich mit dem Gatten und dem Kind das Weihnachtsfest beging. Wir sahen sie in den finstern Zimmern herumirren, das verlorene Glück suchen und nur die Bilder der beiden Verlorenen finden. Das Kind gestorben, der Mann erschlagen vor dem Feind. Das Glück zerstört. Und dies nur ein Erlebnis von Millionen.

Menschen! Menschen! Ihr seid doch dieselben geblieben, die sich von Philipp II. foltern und verbrennen liessen. Nicht um ein Haar besser geht es euch, als in jenen Zeiten, die ihr die finstern nennt.

Die Art, wie wir den heiligen Abend verbrachten, stand in schreiendem Widerspruch zur Zeit. Ungefähr dreissig Personen unserer Pension vereinigten sich unter einem lichterhellen Weihnachtsbaum zu einem Festmahl. Nachher hielt uns Musik, die Schweizer Offiziere boten, in trautem Geplauder bis Mitternacht zusammen. Die Gesellschaft bestand aus Deutschen, Österreichern, Franzosen, Russen, Schweizern und einem Brasilianer, der in Deutschland studiert hat. Wir merkten diese Unterschiede der Nationalität nicht und kamen miteinander ohne Hass aus, und ohne uns zu zerfleischen

* * *

Eine österreichische amtliche Meldung von gestern erklärt das Debakel der k. u. k. Armee in Serbien. Man habe den Schwierigkeiten nicht genug Rechnung getragen. «Infolge der Ungunst der Witterung», so heisst es da, «waren die wenigen durch ungünstige Terrain führende Nachschublinien in einen solchen Zustand geraten, dass es unmöglich war, der Armee die notwendige Verpflegung und Munition zuzuführen» usw.

Also wegen schlechten Wetters !

Und da will man noch immer sagen, dass der Krieg ein vernünftiges Mittel der Entscheidung ist?

Ein Völkerschicksal hängt von der Witterung ab! Sind da nicht die Chancen einer internationalen Untersuchung, die eventuellen Nachteile eines friedlichen Übereinkommens doch vorzuziehen?

Zu dieser amtlichen Meldung wäre noch auf die Mitteilung hinzuweisen, wonach der Kommandant der österreichischen Balkanarmee «aus Gesundheitsrücksichten» seinen Abschied erbat und an dessen Stelle Erzherzog Eugen gesetzt wurde.

Für wie naiv muss man doch die Bevölkerung halten, dass man ihr diese Phrasen zumutet. Es sieht doch jeder ein, dass es sich hier um eine strafweise Entsetzung handelt. Warum nennt man das Ding nicht beim richtigen Namen? —

Wiederholt, und auch nach der Niederlage in Serbien, ist amtlich hervorgehoben worden, dass die Ereignisse in Serbien ganz nebensächlich sind, da die Entscheidung des Feldzugs im Norden fällt. Ja, warum hat man dann Menschenleben — und nicht in geringer Zahl — geopfert? Ich rede dabei nicht nur von den unsrigen. Wenn wir Serbien auf den russischen Schlachtfeldern zu besiegen hoffen, liegt es doch erst recht in unserm Interesse das Land nicht zu schwächen, seine Menschen zu schonen, seine Felder und Städte nicht zu verwüsten. Die möglichste Schonung der Feinde ist dann unser Vorteil!

Aber diese Einsicht bricht sich nicht Bahn, das Bedürfnis des militärischen Prestiges, des Krieges um des Krieges willen, überwiegt. Man wird jetzt bemüht sein, trotz der erkannten Unerheblichkeit des Ergebnisses die gekränkte Waffenehre wieder herzustellen. Wieviel tüchtige Menschen wird das das Leben, wie viele die Gesundheit kosten?