Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. März.

Gestern Abend zurückgekehrt. In Luzern Vortrag, dann Zürich. Der Vortrag war gut besucht; auch von Fremden. Das Thema «Vom Weltfrieden zum Weltkrieg» interessiert jetzt. Ein Herr, der dem Vortrag beigewohnt, bat mich andern Tags um eine Unterredung. Er ist Deutscher, der 17 Jahre in Übersee gelebt hat, zuletzt jahrelang in Antwerpen etabliert war und eine Belgierin zur Frau hat. Jetzt ist er vollständig ruiniert. Entsetzt über das Schicksal Belgiens, über die Zerstörung seiner Existenz. Viele Belgier und Franzosen gehören zu seinen besten Freunden. Er war auch während der Belagerung Antwerpens unbehelligt in der Stadt geblieben. Will sofort nach Friedensschluss wieder zurück. Seine sehnsuchtsvolle Frage ging dahin, wie denn dieser grauenvolle Krieg zu Ende zu bringen sei. — Was kann man darauf antworten? Dieser Einblick in die Einzelschicksale ist fürchterlich. Das Verbrechen, das in seiner Gesamtheit nicht erfassbar ist, wird so in seiner ganzen Grauenhaftigkeit wahrgenommen.

Am Vierwaldstättersee deutsche internierte Soldaten gesehen. ln Vitznau einige Stunden mit Z. Y. verbracht. Lodernder Zorn über das Verbrechen und über die Verbrecher. Dies soll übrigens die Signatur der nichtmilitärischen Kreise Deutschlands sein, die Einblick in die Dinge haben. Dreiviertel jener Abgeordneten, die bei Liebknechts Reden protestartig den Saal verlassen, äussern sich unter vier Augen wie er.

In Zürich Gräfin X. Y. kennen gelernt. Auch hier das Entsetzen über diesen Krieg und über die Zerstörungen, die die kriegerische Psyche in Deutschland bewirkt, über die Unkenntnis der wahren Verhältnisse in den breiten Schichten des deutschen Volkes. Sieht keinen Ausweg. Ebenso Prinz Z. nicht, den ich wieder sprach. Man möchte es in Frankreich nicht glauben, wieviel wahre Sympathien in Deutschland für das französische Volk und für die französische Kultur leben. Natürlich nur bei jener Schicht, die mit der Aussenwelt in Fühlung stand. Diese blieb immun gegen die Einflüsse der Hetzpresse. Wieder ein Beweis, welch fester Schutz gegen den Krieg unsere Verständigungsarbeit geworden wäre, wenn wir sie noch einige Jahre hätten entwickeln können.

Nach Hause zurückgekehrt, fanden wir einen Brief von Lucy v. J. vor. Sie hatte ihren Gatten Ende Oktober 1914 bei Ypern verloren. Jetzt fiel dessen letzter Bruder. Sie schrieb:

»Mutter hat nun ihren vierten und letzten hergeben müssen. Ganz wie Hans lag Rudolf fünf Stunden verwundet im Granatenregen, — wieder war es eine leichte Wunde — und ein Granatsplitter im Bein — aber die Granate war vergiftet. Ich finde keine Worte mehr für das, was ich seit drei Jahren erlebe und miterlebe. Wie Ihr wisst, war Ludolf überaus glücklich verheiratet, zwei prachtvolle Kinder, er selbst ein prachtvoller Mensch, 32 Jahre ...»

Er fiel dort, wo, wie es hiess, «unsere Verluste erträglich» waren. Erträglich! Die alte verwitwete Frau, die nun das letzte ihrer vier Kinder (zwei starben erwachsen vor dem Krieg) dem Kriege zum Opfer gebracht, wird dies wohl kaum «erträglich» finden.