Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

6. Oktober 1914.

Vormarsch im Nordosten («Schulter an Schulter») wird gemeldet. Kämpfe an den Karpathenpässen. Die Anwesenheit russischer Truppen im Komitat Marmaros-Sziget berührt noch immer höchst unangenehm.

Dieses «Schulter an Schulter» erweckt die Hoffnung, dass diese Waffenbrüderschaft auch nach dem Krieg eine die Völker befriedigende Form annehmen wird. Man hofft auf einen engen politischen oder wirtschaftlichen Zusammenschluss beider Reiche. Man soll sich nur keinem zu grossen Optimismus hingeben. Das Interesse der österreichischen Industriellen und der ungarischen Agrarier wird sich dagegen auflehnen, und die Gefahr besteht, dass diesen kleinen Gruppen das Interesse der Konsumenten geopfert wird. Aber man wird doch das Argument nicht unbeachtet lassen können, dass diese Konsumenten, die sich auf den Schlachtfeldern geopfert haben, ein gewisses Anrecht auf Berücksichtigung haben. Mit der Übertragung der preussisch-deutschen Militärorganisation allein wird den Völkern Österreich-Ungarns wahrlich nicht gedient sein. Wenn sie wie die Deutschen zu sterben bereit sein sollen, werden sie auch wie die Deutschen zu leben verlangen. Das Wort eines deutschen Gerichtshofes «Österreicher sind in Deutschland keine Ausländer», das dieser Tage fiel, ist hier sehr zu Herzen gegangen.

Die Form, nach der sich das bei der Gemischtheit der österreichisch-ungarischen Sprachstämme verwirklichen soll, ist wahrlich nicht leicht auszudenken. Ein Anschluss an das Reich erscheint kaum möglich. Wohl aber die Ausbildung einer neuen höheren Staatenunion als mitteleuropäischer Staatenbund mit Deutschland, Österreich-Ungarn, dem Balkan, Italien, Belgien, Holland, der Schweiz, das neu zu errichtende Polen, Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Luxemburg und — wer weiss — auch Frankreich. Darüber eine Verfassung, die ein Mittelding sein müsste zwischen der Verfassung des alten Deutschen Bundes und der Vereinigten Staaten mit einem obersten Gerichtshof in Bern oder Haag, mit Zoll-Union und einer wirtschaftlich-kommerziellen Zentralstelle in Berlin. Phantasien?

Keine grössere als dieser Krieg war, der jetzt Wirklichkeit ist, und der etwas bringen muss, was ihn wenigstens nachträglich rechtfertigt.

Der Kampf um die Abwälzung der Urheberschaft dieses Krieges geht weiter. Sonntag, den 4. erschien im «Berliner Tageblatt» ein an die Kulturwelt gerichteter «Aufruf», der von ungefähr 100 hervorragenden Deutschen unterzeichnet ist. Darin wird bestritten, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet, dass es die Neutralität Belgiens verletzt, dass es ausserhalb dringender Notwehr Eigentum und Leben belgischer Bürger gefährdet, Löwen verwüstet, das Völkerrecht missachtet habe.

Jetzt vor einem Jahr fand die Nürnberger Tagung des Verbandes für internationale Verständigung statt. Heute vor einem Jahr war dort die grosse öffentliche Versammlung, in der d’Estournelles de Constant und Konrad Haussmann über die deutsch-französische Verständigung sprachen. Unter dem jubelnden Beifall von 1000 Deutschen.

D’Estournelles sagte da: «Der Augenblick kommt, wo wir wählen müssen zwischen Revolution, Anarchie oder Ordnung, Glück, Fortschritt, oder, anders ausgedrückt, zwischen dem europäischen Krieg oder den Vereinigten Staaten Europas.»

Das wurde am 6. Oktober 1913 von einem Franzosen in einer ihm zujubelnden deutschen Stadt gesagt. Und am 6. Oktober 1914 zählte man den 30. Tag der grossen Schlacht in Nordfrankreich, zählten Deutsche und Franzosen Hunderttausende von Toten und Verwundeten.

Man sage nicht, dass wir Pazifisten blind waren. Wir sahen was kommen konnte, wussten aber auch, dass es nicht hätte kommen müssen. Wir haben gewarnt.