Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 14. Februar.

Gestern Nachmittag zum Tee bei mir: G., L., Sch., R. und G. Thema: Der Krieg und seine Lösung. Hauptsächlich das Problem Elsass-Lothringen, die Haltung der Sozialdemokraten in Deutschland und Frankreich. Man erkannte, dass sich die europäische Politik durch den Krieg in eine Sackgasse verrannt habe. Man mag die Dinge von welcher Seite immer betrachten, es hat den Anschein, als ob es keinen vernünftigen Ausweg gäbe. Aber doch nur, weil die Macht bei jenen ist, die nicht die Kraft oder nicht den Willen haben, oder noch besser ihr Interesse dabei nicht befriedigt wähnen, die Vernunft zur Geltung kommen zu lassen. Die Aussichtslosigkeit der Lösung rührt ja eben daher, dass es nur Vernunftsauswege gibt. Diese sind aber nicht gangbar, weil sie von denjenigen verrammelt sind, die in dem Masse, indem ihnen die Fähigkeit zur Erkenntnis der Vernunftgebote abgeht, auch die Macht besitzen.

Danach ist die Lage einfach trostlos. Man muss sich fatalistisch auf die Logik der Dinge verlassen. Sie, die so oft schon das Ventil war, das in verzweifelten Lagen der Menschheit die Lösung brachte, wird es wohl auch hier bringen. Und mein alter Glaubenssatz «Die Logik der Dinge ist vernünftiger als die der Menschen», wird wohl auch hier gerechtfertigt werden.

Je mehr man aber die Schwierigkeiten begreift, die sich einer vernünftigen Lösung entgegenstellen, umsomehr erkennt man die hohe Bedeutung der gegenwärtigen Krise. Die Menschen haben im allgemeinen keine Ahnung davon, um was es geht, welche Kräfte um Dasein oder Untergang ringen, dass ein Prozess eines halben Jahrhunderts in diesem Krieg nur in eine allgemein fühlbare akute Form getreten ist, der, falls er jetzt seine Erledigung nicht findet (was wahrscheinlich ist), wohl noch einige Jahrzehnte weiter gehen wird. Erst dann, bis dieser Prozess vollendet sein wird, wird die Menschheit erkennen, welche entscheidende Revolution sie durchgemacht hat. Ein Weltwerden ist es, das das Leben der Generationen seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ausfüllt und wahrscheinlich bis in die Mitte dieses Jahrhunderts noch ausfüllen wird, in der der gegenwärtige Weltkrieg nur eine Episode sein wird. Es ist die Krise der Pubertätsperiode der Menschheit, die wir erschütternd durchleben, aus der heraus sich dereinst die Menschheit zu ihrer vollen Reife entwickeln, nach der die ungeformte Masse zur wohldurchdachten Organisation sich gestalten und das Chaos zurücktreiben wird, das einem Stern Leben gibt. Es ist nichts anderes, als der Entwicklungskampf zur Organisation, als die Neugestaltung der Lebenskräfte zu einer Gesellschaft, und die Erschütterungen des Hasses, Neides und Misstrauens, die im Weltkrieg nur akute Form angenommen haben, sind die Begleiterscheinungen dieser noch nicht erkannten fürchterlichen Umwälzung. Die technische Entwicklung bildete hierzu nur die Vorbereitung. Wir wähnten, weiss Gott wie weit wir es schon gebracht haben, weil wir Dampf, Elektrizität, Wasser und Luft in unsern Dienst gestellt hatten. Dabei übersahen wir, dass alle diese Fortschritte nur Werkzeuge und Mittel waren, um die Formen der Gesellschaft zu entwickeln, die als roher Stoff vor uns lag. Jetzt wird diese Masse in die Form gegossen, die das menschliche Genie ihr geschaffen, und da noch alles in Fluss ist, alles brandet, zischt und gurgelt, wähnen wir zufällige Zeitgenossen, den Weltuntergang zu erleben, während wir nur Zeugen einer Weltgeburt sind. Und so wird eines Tages die Vernunft, die wir zur Ohnmacht verdammt glauben, für verloren hielten, unsern Augen oder den Augen unserer Nachkommen wieder leuchten über eine neue, organisierte Welt und eine, dann erst vollendete, wohlgeformte und glücklichere Menschheit.

Das zu erhoffen ist der einzige Trost, der uns die Nacht der Verzweiflung ertragen lässt. Mögen diejenigen, die diese neue Welt einst geniessen werden, unser, die wir unser Leben lang an ihrem Werden litten, mit Verständnis gedenken!

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Noch ein Thema von grosser Wichtigkeit wurde in unserer gestrigen Unterhaltung berührt: das der Presse und ihrer unerhörten Wirkung auf die Verhetzung und Verkennung der Völker. G. schilderte die Unfähigkeit der meisten deutschen Korrespondenten in Paris, die ohne Kenntnis der politischen Verhältnisse des Landes, gewöhnlich aus der schönen Literatur kommend, lustig drauflos schrieben und ihren Ehrgeiz darein setzten, den Abgrund zwischen den beiden Völkern zu verliefen. Es fiel das Wort: Noch wichtiger als die Beseitigung der Geheimdiplomatie ist die Beseitigung der unverantwortlichen Presse. — Das ist wahr. Nach dem Kriege wird auch auf diesem Gebiet ein Wandel vor sich gehen müssen. Es werden Gesellschaften gegründet werden müssen zur Kontrolle der Presse, zur Aufklärung des Publikums, zur Änderung der Presse-Gesetzgebung. Man wird den Dienst in der Presse von einem gewissen Bildungsgrad abhängig machen, die Verantwortung für jeden Satz wird der Schreiber persönlich zu tragen haben, die Anonymität des Journalisten wird aufzuheben sein. Jede noch so kleine Nachricht wird mit dem vollen Namen und der Adresse des Verfassers zu unterzeichnen sein. Das wird diesen zur Selbstkontrolle veranlassen und das Publikum zur richtigen Einschätzung der Nachrichten erziehen.