Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. September.

Abgelehnt!— Die neutralen Regierungen wollen von einer Vermittlung nichts wissen. So äussert sich die skandinavische Ministerkonferenz, so der Schweizer Bundesrat.

Die am 23. September verbreitete offizielle Note über die nordische Ministerkonferenz besagt:

«Ferner einigte man sich dahin, unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu erklären, dass die drei nordischen Reiche es für ausgeschlossenen erachten, sei es allein oder in Verbindung mit andern Regierungen, die Initiative zur Vermittlung zwischen den kriegführenden Mächten oder zu ähnlichen Veranstaltungen zu ergreifen.»

Für ausgeschlossen. Der Bericht des Schweizer Bundesrat an die Bundesversammlung über die zahlreich eingelaufenen Petitionen um Vermittlung hält ebenfalls den Zeitpunkt dafür nicht für gekommen.

Es wird Aufgabe der Völker der neutralen Staaten sein, sich durch diese Ablehnungen nicht abhalten zu lassen, und immer wieder das Verlangen zu stellen, durch Angebot einer Vermittlung dem zwecklosen Morden Einhalt zu gebieten. Je nachdrücklicher diese Forderung gestellt wird, umso mehr erleichtert man den neutralen Regierungen die sicherlich schwierige Aufgabe, sich der hergebrachten Sitte zu widersetzen und in einen Krieg durch Vernunftreden einzugreifen. Europa bleibt leider auch in dieser Beziehung Europa. In Amerika konnte die Furcht, den Kämpfenden unangenehm zu sein, von einem Vermittlungsversuch nicht abhalten. Und wer weiss denn, ob, wenn der erste Versuch ohne Erfolg ist, nicht der zweite, dritte oder zehnte von Erfolg begleitet wäre.

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Die Reichskonferenz der Mehrheitsgruppe der deutschen Sozialdemokratie nahm eine Resolution an, in der sie in erfreulicher Weise Stellung nahm «gegen die Treibereien und Forderungen anderer, die dem Krieg den Charakter eines deutschen Eroberungskriegs geben wollen». Unumwunden sprach sie sich gegen Annexionen aus. Gleichzeitig stellte sie sich jedoch auf den Standpunkt, dass Deutschland im Juli 1914 in der Notwehr gehandelt habe, dass es «infolge der allgemeinen Mobilmachung Russlands vom 31. Juli 1914 aufs schwerste bedroht» war. Wenn dies den Krieg als Verteidigungskrieg darstellen, wenn dies besagen soll, dass ein Ausweg zur Vermeidung dieses Kriegs nicht gegeben war, so stellt die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie ihre Zukunft auf eine brüchige Grundlage, die Zusammenstürzen muss, sobald die ersten Stürme der freien Diskussion darüber hinfegen werden. Den Präventivcharakter des Kriegs geben bereits sehr national gesinnte Männer in Deutschland zu. Das Wort «wir haben die Stunde wählen können» ist mehr als einmal in der Öffentlichkeit gesagt und geschrieben worden. Der Sozialdemokratie sieht es wahrhaftig schlecht an, alldeutscher als die Alldeutschen sein zu wollen.

Während aber die deutschen Sozialdemokraten zur Sicherung der Daür des künftigen Friedens jede Annexion ablehnten, forderten gleichzeitig die französischen Sozialdemokraten die Annexion Elsass-Lothringens.

So werden die Völker niemals zur Ruhe kommen.

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Bern, 26. September.

Für die Freunde der Kriegshumanisierung wird der nachstehende Vorfall eine Lehre sein. Die Österreicher haben kürzlich den Gipfel des Monte Cimone, den sie im Juli verlassen mussten, in die Luft gesprengt. Ob es Notwendigkeit oder bloss Ranküne war, wird die Kriegsgeschichte aufdecken. Dabei wurde eine ganze italienische Kompagnie verschüttet. Der gesprengte Berg konnte nicht besetzt werden, da ihn die Italiener unter Sperrfeür hielten. Die Österreicher boten einen Waffenstillstand an, um die Verschütteten zu retten. Das italienische Kommando hat das Anerbieten abgelehnt. Hier die vom österr.-ungar. Generalkommando veröffentlichten Dokumente:

«1. Der Kommandant der k. u. k. österreichisch-ungarischen Streitkräfte im Raum des Tonezza - Cimone-Gebiets an den Kommandanten der gegenüberstehenden königlich italienischen Truppen: Unter den Trümmern des von uns in die Luft gesprengten Monte Cimone befindet sich noch lebend eine grössere Anzahl italienischer Soldaten, die um Hilfe schreien. Wir sind bereit, ihnen zu helfen und sie aus ihrem Grabe zu befreien, wenn die italienische Artillerie und Infanterie heute, den 25. September 1916, zwischen 2 Uhr nachmittags und 7 Uhr abends, das Feuer auf den Monte Cimone einstellt. Selbstverständlich betrifft dies ebenso die italienischen Batterien im Val Astico wie diejenigen auf den Höhen westlich und östlich dieses Flusses. Während dieser Zeit dürfen sich die italienischen Patrouillen zwischen dem Astico und dem Rio Fredo nicht über die Befestigungslinie vorbewegen, widrigenfalls wir die Hilfsaktion einstellen und die Feuerpause für gebrochen erachten. Falls der königlich italienische Kommandant hierauf nicht eingeht, verfallen die italienischen Soldaten ihrem Schicksal. Bezügliche Antwort wolle bis zum 25. September, 12 Uhr mittags, bei unserer Vorpostenlinie auf der Front abgegeben werden. Eile ist geboten.

2. Abschnittskommando Pedescala, 25. September 1916, 10 Uhr 45 vormittags. In Erwägung, dass die österreichisch-ungarischen Truppen ebenso wie sie ihren Verwundeten zu Hilfe eilen konnten, in der langen Zeit zwischen der Minenexplosion und dem Beginn des italienischen Feuers aus Menschlichkeit auch den italienischen Verwundeten hätten helfen können, findet es seine Exzellenz der Armeekommandant für angezeigt, die verlangte Einstellung des Feuers nicht zu bewilligen. Der Generalstabschef: Generalmajor Albricci.»

Seine Exzellenz steht also auf dem Standpunkt der bekannten Anekdote «es geschieht meinem Vater schon recht, wenn mir die Finger abfrieren, warum kauft er mir keine Handschuhe». Sie findet es für angezeigt, hunderte ihrer Landsleute jämmerlich ersticken zu lassen. Es lebe der Krieg!

Was werden wohl in späteren Jahren die Menschen zu solchen Greueln sagen, wenn sie in ruhigen Tagen davon lesen werden? Welcher Abscheu wird sie erfüllen müssen gegen die Institution Krieg und gegen den kriegerischen Geist, welche Empörung gegen jene wahnsinnig gewordenen Harlekine, die das sogenannte «neue Völkerrecht» konstruierten? Weil die Exzesse des Kriegs in den Begriff einer sittlichen Ordnung nicht mehr einzugliedern gehen, suchen jene den Rahmen als überlebt und das unausdenkbar Graünhafteste als den Inbegriff der Sittlichkeit darzustellen. Das nennen sie dann «neues» Völkerrecht.

Die im militärischen Fieber denkenden Menschen sind gefährlich durch die Fiktionen, die sie sich zur Rechtfertigung zurecht legen. Die militaristische Weltanschauung besteht überhaupt nur infolge ihrer Fiktion von einer die Staatenwelt beherrschenden absoluten Anarchie, wonach jeder Staat der naturgegebene Feind des andern ist, und das Dasein wie die Lebensentfaltung eines jeden durch den andern gehemmt wird. Die sich vollziehende Umwandlung der zwischenstaatlichen Struktur ist für jene, die sich dieser Fiktion hingeben, gar nicht vorhanden. Sie wissen nichts von der sich geltend machenden Tendenz der Kooperation, von dem Erwachen gemeinschaftlicher Interessen und dem Entstehen gemeinsamer Organe zur vernunftgemässen Vertretung dieser Interessen. Sie fingieren eine Anarchie, die in dieser Form gar nicht mehr besteht. Sie schaffen so die Not, die ihre Existenz rechtfertigen soll.

Die militaristische Fiktion zeigt sich auch in der Kriegführung. Man fingiert eine enge und untrennbare physische Zusammengehörigkeit von Regierung und Volk, von Führung und Heer. Daraus schliesst man auf die Nützlichkeit höchster Grausamkeit. Man tut so, als ob die Anwendung grausamer Mittel gegenüber den Volks- und Heermassen eine Pression auf die Regierung und Heerführung ausüben könnte. Man meint, wenn man einem Volk die Nahrungsquellen absperrt oder wenn man schwere Explosivkörper auf dicht bewohnte Städte wirft, dass man damit einen Zwang auf die Regierung des feindlichen Landes ausüben kann, oder wenn man die Truppen recht grausam behandelt, dass man die Heeresleitung damit beeinflusst. In dieser wundersamen Fiktion sehen die Akteure nicht, was sie ein Blick auf ihre eigenen Verhältnisse belehren könnte, dass Volk und Truppen im Krieg ohne jeden Einfluss auf die Führung sind. Es sind stumme Opfer, die man quält. Es ist in Hinsicht auf das Ergebnis wie damals als Xerxes das Meer peitschen liess; nur mit dem Unterschied, dass Volk und Truppen furchtbar leiden, sich dabei aber ebensowenig helfen können wie das gepeitschte Meer. Für die Regierung der gequälten Massen ist die jenen auferlegte Qual nur ein Mittel, die Hassgefühle gegen den Gegner aufzupeitschen, die Gequälten erst recht zur Fortsetzung und opferreichen Durchführung des Kriegs gefügig zu machen. Der grausame Feind meint, die Gequälten werden sich gegen ihre eigenen Führer wenden. Umgekehrt! In der Ohnmacht, in der sie sich diesen gegenüber befinden, wird alle durch die Qual ausgelöste Auflehnung gegen jene gelenkt, die diese Qual veranlassen. Man erreicht also den entgegengesetzten Zweck. Aber die Fiktion lässt das nicht erkennen. So wird fortgefahren, in der Zerfetzung der Menschheit. Die gefährlichsten Instrumente befinden sich in Händen von Toren, und es gibt keine Mittel, sie ihnen zu entreissen. Unser Kampf muss daher den Fiktionen gelten, aus denen der Militarismus sein Daseinsrecht und seine Notwendigkeit herleitet. Der unendliche Betrug muss aufgedeckt werden in seiner ganzen Gefährlichkeit.