Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. November.

Von Lammasch einen Artikel «Die Wissenschaft und der Krieg» («Deutsche Revue», November 1914) erhalten, der wirklich hocherfreulich ist. «Sobald der Kanonendonner verstummt ist, wird die Solidarität der menschlichen Interessen, deren Bewusstsein bei vielen während des Krieges verdunkelt worden, wieder allen einleuchtend werden.» So heisst es darin. Und das ist ja auch klar. Der Zweifel kann nur darüber entstehen, ob der heute aufgewühlte Hass dieses Bewusstsein nicht lange über den Krieg hinaus verdunkelt halten wird. Das erscheint mir ausgeschlossen. Erstens, weil vor dem Kriege bereits zu viele Arbeiter der Internationalen Kooperation am Werke waren, die in allen Ländern ihr durch den Krieg unterbrochenes Werk wieder aufnehmen werden; zweitens, weil die nach dem Krieg aufflammende Reaktion gegen die wahnsinnige Zerstörung dieser Arbeit nicht nur förderlich sein, sondern ihr auch einen erhöhten Antrieb geben wird. Ausserdem sind ja die beiden feindlichen Lager zu ungleich. Deutschland und Österreich-Ungarn gegenüber steht die Welt der Alliierten und der Neutralen, die keinen gegenseitigen Hass empfindet und gar keinen Anlass haben kann, diese nützliche Arbeit des internationalen Zusammenwirkens zu unterlassen. Das blosse Interesse, von dieser Übermacht nicht ausgeschlossen zu sein, wird Deutschland und Österreich-Ungarn veranlassen, mitzuarbeiten.

Prof. Lujo Brentano versendet seine Antwort auf den gegen ihn gerichteten «Offenen Brief» Yves Guyot’s . Diese Antwort zeichnet sich durch vornehme Ruhe und Mangel an Leidenschaft aus, wodurch sie schon ihre Wirkung nicht verfehlen wird. Aber auch dadurch wird sie wirken, dass sie einige irrige Behauptungen Guyots durch Zitate aus Akten richtig stellt.

In zwei Punkten halte ich jedoch Brentanos Argumentation für schwach.

1. Er hält durch den Sarajevoer Prozess es für erwiesen, «dass das Verbrechen in Serbien vorbereitet worden, und dass serbische Behörden Mitwisser des Verbrechens gewesen sind.» Dieser Prozess ist bis jetzt nur durch magere und ziemlich unklare Zeitungsberichte bekannt geworden, die nichts beweisen. Man wird eine aktenmässige Darstellung abwarten müssen. Dass aber selbst das bewiesene Faktum den Krieg rechtfertigen würde, kann nie und nimmer zugegeben werden. Die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns, die eben die grosse Gefahr eines europäischen Zusammenbruchs aus Anlass des Balkankrieges vorübergehen gesehen haben, mussten wissen, dass es auf dem vulkanischen Boden des Balkans, dass es in Europa überhaupt einen lokalisierten Krieg, an dem eine europäische Grossmacht beteiligt ist, nicht mehr geben kann, dass jeder kriegerische Streit naturnotwendig den Weltkrieg entfesseln müsste. Die Forderung nach einer Lokalisierung eines solchen Krieges war unerfüllbar. Es hätten andere Wege gesucht werden müssen — und sie wurden gezeigt —, um das gekränkte Recht der Donaumonarchie und ihre Grossmachtstellung zu schützen.

2. Er definiert den Begriff des «Militarismus», wie er ihn als Unterzeichner der 93 Kulturträger in dem bekannten «Protest an die Menschheit» verstanden haben will, als den «das ganze Volk durchdringenden Geist, dass es mit Freude zu den Waffen zu greifen habe, wenn es gilt, das Vaterland zu verteidigen.» Das ist nicht «Militarismus». Das würde den 93 deutschen Kulturträgern kein vernünftiger Ausländer verargen. Was unter «Militarismus» zu verstehen ist, habe ich oben (10. November) dargelegt. Man ersieht daraus, dass Brentano, indem er seinen Namen unter jenes Schriftstück setzte, sich dessen Inhalt ganz besonders ausgelegt hat. Die Frage drängt sich auf, ob bei den 93 Unterzeichnern nicht 93 verschiedene Anschauungen darüber obwalteten.