Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 24. Januar.

Präsident Wilson ist sich der Sendung bewusst, die ihm obliegt. Seine Botschaft vom 22. Januar ist der grösste geschichtliche Akt dieses Kriegs. Er wird den Ruhm der Schlachten überdauern, der leider so überreichlich die Gegenwart erfüllt.

Ich musste warten bis ich einen englischen Text der Botschaft zu Gesicht bekam. Die verbreitete deutsche Übersetzung war ein Kauderwelsch, aus dem man nur ahnen konnte, um was es sich handelt, das man aber, wenn man etwas genau wissen wollte, nicht verstand. Es ist ein Jammer, dass solche wichtige Dokumente den Völkern in Übersetzungen vorgelegt werden, die deutlich verraten, dass die damit Betrauten keine Ahnung von der Materie haben.

Die Wilson-Botschaft ist nächst dem Zaren-Manifest vom 24. August 1898 das wichtigste Dokument der Durchdringung der pazifistischen Lehre. Sie wendet sich wie jenes Dokument an die Regierungen der Welt, um ihnen klar zu machen, dass die bisherigen Methoden der Staatenbeziehungen verhängnisvoll seien. Suchte aber das Manifest von 1898 «dem Unheil vorzubeugen, das die ganze Welt bedroht», was ihm durch den Widerstand der Gewaltfanatiker nicht gelang, so sucht die Botschaft von 1917, nachdem das Unheil über die ganze Welt niedergegangen ist, für die Zukunft zu retten, was noch zu retten ist.

Wilson wird es leichter haben als seine Vorgänger, Glauben und Mitwirkung zu erlangen, denn für ihn wirken die Erfahrungen der 2 1/2 Jahre des fürchterlichsten und verheerendsten Kriegs, den die Menschheitsgeschichte zu verzeichnen hat.

In der kritischsten Stunde der europäischen Geschichte, wo sich die Kämpfenden anschicken, mit erneuter Gewalt aufeinander loszustürzen, die unerhörtesten Opfer an Leben ihren kriegerischen Absichten zu bringen, erscheint das Oberhaupt eines der grössten Staatengebilde der Welt, um die pazifistische Lehre zu verkünden, die Grundlagen eines Dauerfriedens nach pazifistischer Auffassung ihnen zu zeigen, und ihnen begreiflich zu machen, dass dieser Friede durch Gewalt nicht erreicht werden kann.

Es ist die pazifistische Lehre, die er verkündet, die seit einem Menschenalter in allen unsern Schriften vertreten und verbreitet wurde, die wir auf den zwanzig Weltfriedenskongressen von 1889 bis 1913 formuliert, für die wir gestritten und gelitten haben. Diese Botschaft ist unser Sieg, unsre Legitimierung, die Krönung unsrer Arbeit.

Doch gebe ich mich nicht der Hoffnung hin, dass die Botschaft unmittelbar zu dem gewünschten Erfolg, zu der Herstellung der Liga des Friedens, zu der unbeschränkten Anerkennung des Rechts der Andern, dass sie sofort zur Vernunft führen wird. Das Gebäude, das hier gezimmert werden soll, muss auf Vertrauen beruhen. Das sagt die Botschaft selbst. Und wo soll dieses Vertrauen herkommen, nach einer vierzigjährigen Politik des Misstrauens, des Hasses, der Gewalt und einem 2 1/2 jährigen Morden. Erst nach der Reaktion, die dieser Kampf auslösen wird, kann das Wort Wilsons begriffen und zur Tat gewandelt werden. Heute, inmitten des Blutrausches, inmitten des fürchterlichsten Hasses, wird es Viele geben, die die Sprache der Botschaft aus Washington verständnislos anstarren werden, wie die eines Marsbewohners. Heute, wo die Interessenten an der Völkerverhetzung in allen Ländern das grosse Wort führen, wo der Krieg überall die Schlammablagerungen der Tiefe an die Oberfläche gebracht hat, wird es Viele geben, die dem ehrlichen Menschenfreund Wilson niedrige Motive für seinen Schritt unterlegen werden.

Aber sein Wort wird stehen bleiben! Bis die «stumme Masse der Menschheit», zu deren Wortführer sich Wilson gemacht hat, wird reden können, bis die unendlich Vielen, die ihn heule verstehen, und die die Richtigkeit seines Vorschlags einsehen, ihm zur Hilfe eilen werden. Man wird einstweilen diese Botschaft verlachen, verhöhnen, begeifern können, aber wenn man wirklich das Zusammenleben der Völker auf eine sichere Grundlage wird stellen, wenn man eine Wiederholung dieses die Menschheit entehrenden Schauspiels wird vermeiden wollen, wird man die Grundsätze eines Tags anerkennen müssen, die hier für einen Dauerfrieden aufgestellt sind. Anders ist dieser nicht zu erringen. Entweder man gelangt zu einer derart gerichteten Neuordnung der zwischenstaatlichen Verhältnisse oder man fährt weiter fort mit dem Bauchaufschlitzen, Schädelzertrümmern, Blenden, Lebendigbegraben, Ersäufen und badet sich weiter in diesem Blutmorast. Entweder oder! Man begreift es nicht? Die Gewaltfanatiker, die Staatsanarchisten und Weltterroristen können es nicht verstehen, können sich eine durch Vernunft geordnete Welt nicht vorstellen? Die Not, die Not, die beten lehrt, wird auch zur Weltorganisation führen. Unser Bundesgenosse zur Verwirklichung unsrer Heilslehre wird, nachdem uns die Vernunft, auf die wir rechneten, im Stich gelassen hat, die Massenarmut, der Hunger, die Schwindsucht, die Syphilis, die Verdummung, das Verbrechertum, kurz das Elend sein, das aus dieser «herrlichen» Zeit, aus dieser aus Millionen bezahlter Zungen gepriesenen «grossen Zeit» hervorgehen wird. Das Elend!

Die Botschaft Wilsons kann aber doch einen unmittelbaren Erfolg haben. Sie belebt die Friedenserörterungen, die nach der Entente-Antwort und ihrer unberechtigt brüsken Aufnahme in den Mittelländern zu versiegen drohte. Die offene Darstellung dessen, was nach diesem Krieg kommen muss, kann nicht ohne Einfluss auf das Denken über den Augenblick bleiben. Dieses Denken kann uns vor dem grauenhaften Finish dieses Kriegs retten und uns dem Abschluss näher bringen. So sehr dieses Denken auch verdeckt wird durch die Grimassen in der Presse und in den öffentlichen Reden, es ist vorhanden und wirkt, es kann den Kriegsabschluss beschleunigen, kann den schwachen Rest der Vernunft noch erwecken, der uns das grauenvolle Ende erspart.

In jedem Fall: die Friedenserörterung dauert fort. Schon hat Bonar Law im englischen Parlament geantwortet, schroff zwar, ausweichend, aber — geantwortet. Schon hat Tisza im ungarischen Reichstag erklärt, dass die Regierung der Monarchie «geneigt» sei, «den Gedankenaustausch bezüglich des Friedens mit der Regierung der Vereinigten Staaten weiter fortzusetzen.