Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

12. September 1914.

Mit Wehmut schreibe ich dieses Datum. Heute sollte eigentlich im Palast des Reichsrats die Vorversammlung für den XXI. Weltfriedenskongress beginnen. Heute sollten dort die vorbereitenden Kommissionen zusammentreten und die Sitzung des Berner Bureaus stattfinden. Abends für das Berner Bureau das Bankett im Hotel Imperial. Wie blickten wir durch Monate heisser Arbeit nach diesem fernen Tag. Hier ist er nun. Wie sieht er aus! Das Gebäude des Parlaments ist in ein Lazarett umgewandelt. Die Blüte von acht Staaten sieht im Felde. Ganz Europa raucht und blutet.

Und der schwere Druck hat sich nicht gelöst. Weder aus dem «Raume von Lemberg» noch aus dem Westen greifbare Nachrichten. In jedem Falle nur die Gewissheit, dass ununterbrochen gekämpft wird. In Deutschland schweigen heute die Nachrichten, in Österreich werden sie mit dem üblichen österreichischen Aufputz gegeben, z. B. «Der Thronfolger in der Feuerlinie. — Den ganzen Tag bei der Front. — An der Spitze unserer Truppen — Feuertaufe». Recht liebenswürdig. Man versteht das Servieren.

Eine Nachricht aus dem Süden besagt, dass die Serben ungarisches Gebiet betreten haben.

Der neue Papst Benedikt XV. hat seinen Regierungsantritt mit einer Enzyklika gegen den Krieg begonnen. Die Zeitungen veröffentlichen nur ein paar Sätze daraus. Auch der Papst erscheint unangenehm, wenn er den Krieg angreift. Wer weiss, ob die Enzyklika, wollte sie ein Blatt im Wortlaut abdrucken, nicht der Zensur verfallen würde.

Wir haben den Versuch gemacht, den von der deutschen Friedensgesellschaft veröffentlichten und stark verbreiteten Aufruf (2. Kriegsflugblatt) von seiten der österreichischen Friedensgesellschaft zu verbreiten. Indem wir die Wörter Deutschland einfach durch Österreich ersetzten, lokalisierten wir den Text und reichten ihn der Zensur ein, die ihn im Hinblick auf die gegenwärtige Lage als unzulässig erklärte. Also was in Deutschland ohne Anstand verbreitet wird, ist in Österreich unzulässig.

Unangenehme Zeichen mehren sich. Die Wiener Stadtverwaltung hat die elektrische Strassenbeleuchtung eingeschränkt, um mit den Kohlen zu sparen, ln Budapest soll jetzt im September bereits ein Zentner Kohlen K. 7.— kosten. Was wird da erst im Winter daraus werden? —

Gestern erzählte mir eine freiwillige Krankenschwester von ihren Erlebnissen und Beobachtungen. Nur die, die dieses Elend gesehen haben, hätten ein Recht über den Krieg zu sprechen. Diese Erzählungen sind tief erschütternd. Kaum wiederzugeben. Schreiende und weinende Verwundete, die sich vor Schmerz den Verband losreissen wollen, denen nachts das Rasiermesser weggenommen werden muss, damit sie sich nicht das Leben nehmen. Arme Teufel, die mit Bewusstsein sterben und um Frau und Kinder jammern. Mütter und Frauen, die ihren Verwundeten besuchen wollen und von seinem inzwischen erfolgten Tod hören. Verwundete, die acht Tage lang im Zuge lagen, mit Kot beschmutzt, den Verband nicht gewechselt, Verwundete, die zwei Tage lang hilflos am Schlachtfeld lagen, bis sie aufgelesen wurden, die als Kämpfende vier Tage keine Nahrung bekommen haben, die Schlamm tranken, rohe Feldfrüchte und rohes Fleisch assen. Verwundete, die sich tagelang kriechend aus der Schlachtlinie schleppen mussten, die nachts unter Leichen erwachten, nachdem man sie selbst schon als Leichen betrachtet hatte. Oh herrlich der Krieg, dieses «Stahlbad» der Völker!

Und Friedrich Naumann rechnet in seiner neuesten «Hilfe» (10. September) der Menschheit vor, dass in Deutschland täglich 3200 Menschen normal sterben, dass früher, als es noch die verheerenden Seuchen gab, noch mehr gestorben wurde. Nun also! Warum soviel Gezeter über den Mord der Schlachten? Er rechnet uns vor, dass die Deutschen 1870/71 43,000 Tote verloren haben, also für die darauffolgenden 43 Friedensjahre je (!) 1000 Tote. Was wäre das? Sonderbare Rechenmeister! Wie billig ist doch solch ein Krieg! Welche Welt, die um solchen Preis erstritten wird! Welche Ahnungslosigkeit von den Lehren der Menschenökonomie. Vergeuder des höchsten Kapitals, des Menschen, haltet ein mit Eurer traurigen wahnsinnigen Lehre von der Billigkeit der mit Riesenopfern erkauften Kriege.

Reichstagsabgeordneter Pachnicke, der in den letzten Jahren anfing, die interparlamentarischen Konferenzen und die Verständigungskonferenzen zu besuchen, vertritt in einem Artikel in der «Vossischen Zeitung», die «Rechtfertigung des Weltkrieges» betitelt (7. September), ähnlich wie Rohrbach den Präventivcharakter dieses Weltenbrandes. Nicht 1908 oder 1911. «Nein, jetzt war die rechte Stunde!» Dann heisst es:

«Den Gegnern kam der Krieg zu früh. Russland wollte 1916 die Friedensstärke von nahezu zwei Millionen erreichen und erst noch strategische Bahnen an der deutsch-österreichischen Grenze bauen. Frankreich hat seine schwere Artillerie noch nicht vermehrt, gewisse Festungen noch nicht modernisiert, die roten Hosen, diese trefflichen(!) Schussziele noch nicht abgeschafft; auch die volle Wirkung der ihm durch Russland aufgezwungenen dreijährigen Dienstzeit war bis zur Stunde nicht erreicht. All das sprach auf unserer Seite gegen die Vertagung des entscheidenden Entschlusses. War die gewaltsame Lösung unvermeidlich, dann lieber jetzt unter günstigen Umständen als später unter minder günstigen. Der Entschluss, so schwer er fiel, musste gefasst werden.»

So klar es öffentlich auszudrücken, dass dieser Krieg ein Präventivkrieg ist, ist zumindest unklug und macht all die schönen Worte von dem angegriffenen Deutschland, das nichts anderes tut, als sich verteidigen, illusorisch.