Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Wengen, 3. August.

Die Konversation der Staatsmänner dauert fort. Ribot antwortet auf Michaelis, dieser lässt durch ein amtliches Wolff-Kommuniqué zurückantworten. Die Enthüllungen des deutschen Reichskanzlers über die frühem französischen Absichten auf Annexionen in Deutschland und Bildung eines Pufferstaates am linken Rheinufer können nur Misstrauen über die Haltung der Reichsregierung gegenüber der Reichstagsresolution erwecken.

Die Annexionsabsichten Frankreichs sind durch die Erklärung des französischen Parlaments vom 5. Juni auf Elsaß-Lothringen beschränkt worden. Das in einem Land dass sich überfallen wähnt, mitten in einem blutigen Krieg, einem Gegner gegenüber, der für den Fall des Sieges die weitgehendsten Eroberungen proklamierte, Absichten auf Annexionen auftreten, kann niemand aufregen. Die Hauptsache ist, dass sich die Mehrheit des französischen Volkes gegen diese Absichten auflehnte, was in Deutschland erst spät der Fall war und noch immer nicht feststeht. Die Hauptsache ist ferner, dass vor dem Krieg kein Mensch in Frankreich an Annexionen in Deutschland und nur mehr sehr wenige an eine Wiedereroberung Elsaß-Lothringens gedacht haben, während in Deutschland eine mächtige Bewegung mit großen Zeitungen und einer großen Literatur für »Expansion« eintrat und die ganze Welt beunruhigte. Die französischen Annexionsgelüste kamen erst während des Kriegs. Sie wurden dennoch vom französischen Volk zurückgewiesen und haben, abgesehen von dem Problem Elsaß-Lothringen, keinerlei praktische Bedeutung. Bedeutung hat aber der Umstand, dass der neue Reichskanzler mit so starkem Nachdruck auf diese Absichten hinweist. Was kann das anderes bedeuten, als die Stimmung der breiten Masse gegen die Reichstagsresolution einzunehmen? — Diese Enthüllungen sollen dem deutschen Volke klar machen, dass man seinen Appetit nicht zu zügeln braucht, wenn die Gegner solche Pläne im Schild führen. Das ist traurig, denn das gibt mehr Anlaß zur Kriegsverlängerung als die überwundenen französischen Absichten.

Die Frage Elsaß-Lothringen bleibt allerdings. Sie wurde durch eine Rede, die Balfour am 30. Juli im Unterhaus hielt, unterstrichen. Diese Frage muss gelöst werden. Sonst geht Europa daran zugrunde. Entweder volle Autonomie als Republik im Rahmen des Reichs oder Abtretung der rein französischen Teile gegen Kompensation an Frankreich. Eine andere vernünftige Lösung gibt es nicht. Denn die Belassung beim alten Zustand wie die Entreißung der Provinzen einem erst zu besiegenden Deutschland wären keine Lösungen der Vernunft. Je länger man sich aber sträubt, zu dieser unbedingt notwendigen Lösung zu schreiten, um so fragwürdiger wird das Endergebnis sein. Hier wäre es Aufgabe der österr.-ungarischen Regierung, auf den Bundesgenossen einzuwirken. An Elsaß-Lothringen hat das österreichische Volk kein Interresse. Es kann nicht verbluten für die Fehler der Bismarcksdien Politik. Es muss daher dem verderblichen Ringen ein Ende machen. Das ist Österreich - Ungarns Lebensinteresse. Wenn es Lebensinteressen gibt, die man glaubt, nur durch Krieg befriedigen zu können, so gibt es auch Lebensinteressen, die gebieterisch fordern, Kriege zu vermeiden oder zu beendigen. Ein solches Interesse liegt jetzt für die fünfzig Millionen der Donaumonarchie vor.

Wir haben ja einen neuen Feind bekommen! Siam! Wer spricht noch über so etwas? — Die Sensationen für uns müssen anderes Kaliber haben. Schiffe explodieren und tausende Menschen ersaufen. Ich notiere es nicht mehr. Kriegserschlagene? Kaum mehr zu zählen. — Sind das nicht Zeichen der Agonie, die uns nichts mehr als der Rede wert erscheinen lässt.