Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Mürren, 21. August.

Die vierte Kriegsrede des Reichskanzlers wurde bei der Reichstagssitzung am 19. gehalten. Sie galt noch immer in erster Linie der Widerlegung der in der Welt vorherrschenden Ansicht, dass Deutschland den Krieg gewollt habe. Noch am 7. August schrieb Harden in seiner Zukunft (1915, Nr. 45, S. 187): «Dürfe es (Frankreich) klagen, wenn der von solchem Plan und von übermächtiger Verbündelung Bedrohte (Deutschland), die ihm noch genehme Stunde für den Austrag des Streites wählte?» Wohlgemerkt: «wählte»! Es ist dies der wiederholt in Deutschland zugegebene Gedanke des Präventivkrieges, den der Reichskanzler durch kein Wort abzuschwächen suchte, sondern durch die Darlegung jener Umstände, die ihn als notwendig erscheinen liessen, indirekt rechtfertigte. Die Schwäche der Beweisführung in der Rede vom 19. August liegt darin, dass der Reichskanzler viel mehr Gewicht auf die politischen Vorgänge von 1909 bis 1912 legt als auf jene, die Ende Juli 1914 dem unmittelbaren Kriegsausbruch vorangingen. ln jenem Teile wird durch nichts erhärtet, dass der Krieg nicht hätte vermieden werden können. Es wird nur der Grey’sche Vorschlag einer Konferenz zu Vieren erwähnt und nichts von den anderen Grey’schen Vorschlägen und dem Grund ihrer Ablehnung oder Nichtbeachtung durch Deutschland. Auch die Erledigung dieses einen Vorschlages wird jetzt anders dargestellt, als es im Weissbuch geschah, wo es hiess, dass man Österreich nicht zumuten könne, sich vor ein europäisches Schiedsgericht zu stellen. Man scheint, diese Erläuterung jetzt fallen lassen zu wollen und behauptet, dass man die Konferenz nur zurückgestellt habe, weil man eine direkte Aussprache zwischen Petersburg und Wien für aussichtsreicher hielt. Man wollte dieses Ergebnis «abwarten». Zum erstenmal wird hier einer der bis jetzt zurückgehaltenen Korrespondenzstücke zwischen Berlin und Wien veröffentlicht. Danach hat man von Berlin aus in Wien in sehr kategorischem Ton die Aussprache mit Petersburg empfohlen, die man in Petersburg gewollt habe, in Wien aber verweigert hatte. Die Depesche des Reichskanzlers an Tschirschky (das Datum wurde in der Rede nicht erwähnt; sie scheint vom 29. Juli zu sein, also einen Tag nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien) lautete:

«Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es in Kriegszustand begriffen ist, die Verweigerung jedes Meinungsaustausches mit Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Österreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen».

Das klingt gewiss sehr kategorisch, erweckt aber das Verlangen nach all den andern zwischen Wien und Berlin gewechselten Schriftstücken, namentlich nach jenen, die Deutschlands Haltung zu der an Serbien gerichteten Note klar legen, deren Inhalt ja jene Situation geschaffen, die die Gefahr des Weltbrandes zeitigte. Ferner Deutschlands Stellungnahme zu den hartnäckigen Ablehnungen Österreichs zwecks Herbeiführung einer Fristverlängerung. Dies wäre umso wichtiger, als ja gerade die Kürze der Frist, die zur Verfügung stand, die Gefahr zugespitzt hat, so dass die Ablehnung des Grey’schen Konferenzvorschlages, mit dem Hinweis auf das «Abwarten» eines direkten Meinungsaustausches zwischen Petersburg und Wien, an jenem 27. Juli, wo Europa bereits zu glimmen anfing, Deutschlands Unschuld nicht so klar erscheinen lässt, wie der Reichskanzler es erscheinen lassen wollte. Zum «Abwarten» war am 27. Juli keine Zeit mehr. Das war umsomehr ein gefährliches Spiel als sich in bezug auf die direkten Verhandlungen zwischen Petersburg und Wien wieder eines jener bedauerlichen «Missverständnisse» eingestellt hatte, das im Hinblick auf das jetzt «aus tausend Wunden blutende Europa» im höchsten Maße beklagenswert erscheint, und das durch eine nur kurze Verlängerung der Frist des serbischen Ultimatums in seinen fürchterlichen Folgen hätte abgeschwächt werden können. Nichts erwähnt der Reichskanzler, was Deutschland getan habe, um Zeit zu einem friedlichen Ausgleich zu gewinnen. Zeitgewinn war in jenen Tagen die einzige Rettung Europas. Nach dem Reichskanzler war es aber wie schon von Anfang behauptet wurde, die russische Mobilisierung, die den Krieg «unausweichlich» gemacht habe. Wenn man aber bedenkt, dass diese russische Mobilisierung durch die überstürzte Entwicklung der einmal durch Österreichs Ultimatum an Serbien in Fluss gebrachten Dinge bewirkt wurde, und dieses zu einer Zeit erlassen wurde, wo nach des Reichskanzlers Worten in Europa «die Spannung so gross wurde, dass sie eine ernste Belastungsprobe nicht mehr vertrug», so bleibt die Frage offen was Deutschland getan hat, um, als durch das Ultimatum die Krisis für Europa hereinbrach, Zeit zu gewinnen, die klar vorausgesehenen Folgen zu verhindern. Darüber gibt die Reichskanzlerrede vom 19. August noch keine Antwort. Wer, wie der Reichskanzler betont, die direkte Aussprache zwischen Wien und Petersburg «mit dem äussersten Nachdruck» betrieb, und es sogar «ablehnen» konnte, sich «durch Nichtbeachtung seiner Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen», der hätte auch Gelegenheit gehabt, und in Anbetracht der ihm durch das Bündnisverhältnis auferlegten Pflichten auch das Recht dazu, diesen Nachdruck vor Erlass jener serbischen Note geltend zu machen. Allein hätte sich Österreich-Ungarn niemals in einen Krieg mit Russland eingelassen.

Aber darüber, warum der bis aufs Äusserste gehende Nachdruck Deutschlands zur Verhinderung des Konfliktes fehlte, gibt jener Teil der Reichskanzlerrede Aufschluss, der die politische Situation in den vorhergehenden Jahren schildert. Es hat sich durch jene Vorgänge in den leitenden Kreisen der Regierung der Gedanke festgelegt, dass man Deutschland überwältigen wolle, dieser Gedanke wurde immer fester, so dass man in der Zuspitzung der Situation im Juli 1914 sich berechtigt glaubte, eine direkte Folge jener Politik zu erblicken und gleichzeitig auch den Moment, der unter für Deutschland gerade günstigen Verhältnissen, eine Lösung bringen konnte. Die fixe Idee, dass die andern den Krieg seit langem wollten, und dass Deutschland ihn gerade jetzt günstig führen könnte, hat jene Hemmungen ausgeschaltet, die die Krisis zu einer glücklichen Lösung hätte führen können. So ist es, wie ich es in den ersten Tagen erkannte, der «Präventivkrieg», der jetzt geführt wird, ln dieser Ansicht hat mich die neueste Reichskanzlerrede nur bestärkt.

Wie es zu jenen Verhältnissen kam, dass man einen Angriffskrieg der Entente fürchten musste, darüber sucht die Reichskanzlerrede auch einige aufklärende Hinweise zu geben. Sie ergeht sich des weiteren über jene anglo-deutsche Verständigungsversuche von 1912, wobei Deutschland die Neutralität Englands in einem Kriege sich zu sichern wünschte, den es am Kontinent zu führen gezwungen sei, oder vielmehr, der ihm «aufgezwungen» werden könnte. Dass die englischen Staatsmänner auf ein solches Verhältnis nicht eingehen wollten, nimmt ihnen der Reichskanzler sehr übel. Er legt es als einen Beweis der «deutschfeindlichen Richtung» der englischen Politik dar. ln ruhigen Zeiten wird man über diese Verhandlungen sicher anders denken. Wenn man bedenkt, dass der Reichskanzler, dem Minister Haldane, der sich durch die deutsche Fotten-Vorlage «bedrückt» fand, eine Verständigung für weitere Seerüstungen anbot, wird man die Haltung der englischen Staatsmänner gegenüber dem deutschen Neutralitätsvorschlag begreifen können. «Ich fragte an», so sagte der Reichskanzler, «ob ihm nicht eine offene Verständigung mit uns, die nicht nur den deutsch-englischen Krieg, sondern überhaupt jeden europäischen Krieg ausschliesse, mehr wert sei, als ein paar deutsche Dreadnoughts mehr oder weniger.» Das heisst jedenfalls die friedensstörende Wirkung des Wettrüstens arg verkennen, und es ist schade, dass die Antwort Haldanes nicht bekannt ist. Wie er aber darüber gedacht haben mag, zeigt die vom Reichskanzler zitierte Äusserung in Haldanes am 2. Oktober v. J. gehaltenen Rede, worin er seinen Standpunkt über das Scheitern der anglo-deutschen Verständigung darlegt. Darin sagte Haldane (immer nach dem Reichskanzlerzitat): «Und diese Forderung, nämlich der unbedingten Neutralität in jedem Krieg, stellten die deutschen Staatsmänner in dem Augenblick, in dem Deutschland beides, seine aggressiven wie seine defensiven Machtmittel, besonders auf dem Meere, ins Ungeheure verschob». — Sollten es daher nicht doch die «paar Dreadnoughts mehr oder weniger» gewesen sein, die die anglo-deutsche Verständigung verhindert haben? Die Rüstungen waren es ja, die jenen Zustand des Misstrauens und der gegenseitigen Angst in Europa hervorriefen, und die jede Verständigung verhinderten. Rüsten, das heisst Rüsten um die Weite, und daneben sich verständigen war ein Ding der Unmöglichkeit.

Was war das überhaupt für eine Art der Verständigung, die man da bewirken wollte? Der Reichskanzler sagt über das Scheitern jener Verständigungsversuche: «Damals war der Augenblick gekommen, wo England und Deutschland durch eine aufrichtige Verständigung den Frieden der Welt verbürgen konnten». Den Frieden der Welt verbürgen wollen durch ein Abkommen, das im Hinblick, und nur im Hinblick auf einen kommenden Krieg geschlossen werden sollte, zeugt von einer eigenartigen Auffassung des Weltfriedens.

Die anglo-deutsche Verständigung haben die Völker anders gewollt. Nicht nur als ein Neutralitätsabkommen für einen kommenden Krieg, sondern als eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für den normalen Zustand. Die auf Rüstungen beruhende Politik ist nie imstande gewesen, einen Friedenszustand zu schaffen, sie führte zu jener Anarchie, die dann im Präventivkrieg ihren Höhenpunkt erreichte. (Meiner Ansicht nach führt auch England nur einen Präventivkrieg). Das neue Europa wird daher auf andern Grundlagen entwickelt sein müssen, als auf Misstrauen, Gewalt und Vergewaltigung. Dazu wird sich auch Deutschland bekennen, wenn diese furchtbare Katastrophe dereinst überwunden sein wird.