Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. Mai.

Eine Zeitungsnotiz sagt: «Die badische Anilin-und Sodafabrik in Ludwigsburg am Rhein wird in Merseburg eine Zweigfabrik gründen zur Herstellung von schwefelsaurem Ammoniak. Wie die Leitung des Unternehmens erklärt, ist das Ziel Deutschlands, sich in der Versorgung von Düngmitteln vom Ausland unabhängig zu machen und die Landwirtschaft in die Möglichkeit zu versetzen, dass der Boden die doppelte Einwohnerzahl ernähren kann».

Na also! Das wäre also das friedliche Mittel, das dem Programm der Imperialisten, der Alldeutschen und Flottenschwärmer den Boden unter den Füssen wegzöge. Haben sie nicht ihre Anhänger durch das Schreckgespenst geködert, der Boden Deutschlands könne unsere Nachkommen nicht mehr ernähren? Wir haben diese Behauptung stets bestritten. Franz Oppenheimer hat ihnen schon vor einigen Jahren vorgerechnet, dass die Aufteilung der Latifundien und eine dadurch bewirkte vernünftige Bewirtschaftung des Bodens den Menschenzuwachs von mehr als einem Jahrhundert sicherstellen würde. Und nun kommt eine chemische Fabrik und löst das Rätsel mit schwefelsaurem Ammoniak, also durch die Wissenschaft statt durch die Bajonette.

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Die Menschen unserer Tage sind sich in ihrer übergrossen Mehrheit wohl nicht bewusst, dass sie im Rahmen dieses Weltkriegs ein Ereignis erleben, von dem die Jahrhunderte noch mit Grauen und Entsetzen sprechen werden. Es ist dies die Hölle von Verdun! Seit hundert Tagen — Tag und Nacht — wird dort mit der grössten Hartnäckigkeit und Erbitterung zwischen den Söhnen zweier europäischer Kulturvölker gerungen, unter Anwendung der fürchterlichsten Töte- und Vernichtemittel.

Hundert Tage und Nächte um Bergzipfel und Mauertrümmer, um einige Meter Land vor und

zurück. Die offiziellen Berichte lassen in ihrer gemässigten Trockenheit kaum ahnen, was dort vorgeht. Es ist der höllischste Massenmord, seitdem wir Geschichte schreiben, ja sicher noch über diese Grenze zurück. Kein Erdbeben, keine Sturmflut, keine noch so fürchterliche Naturkatastrophe hat soviel Menschen vernichtet, als an dem Fleck vor Verdun fortgesetzt vernichtet werden. Die Zeitgenossen wissen nichts davon. Sie ahnen kaum das Fürchterliche und Wahnwitzige, das sich da zuträgt. Stumpf brüten sie in den Tag hinein, und neben ihnen türmt sich ein Chimborasso von Leichen auf, verblutet Europa, wird von sportmässig erhitzten Köpfen das Grab unserer Kultur geschaufelt. Einst wurde in der Nähe Verduns — auf den katalaunischen Gefilden - die Kultur Europas gerettet, jetzt wird sie dort vernichtet. — Zeitgenossen, werdet euch dieses traurigen Ereignisses bewusst!

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«Wir sind das Ministerium, wir sind der Bundesrat, wir sind der Reichskanzler, wir sind der Reichstag». So hat sich nach Mitteilungen, die im Reichstag gemacht wurden, ein kommandierender General auf eine an ihn gerichtete Beschwerde geäussert. Das sind Worte, lapidar genug, um als Inschrift für ein Denkmal gewählt zu werden, das man dereinst zur abschreckenden Erinnerung an den Militarismus errichten wird.