Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. Oktober.

Vorgestern ist Belgrad genommen worden. Nach hartem Strassenkampf, der zwei Tage und zwei Nächte gedauert haben soll. Der Vormarsch nach Konstantinopel hat begonnen. Konstantinopel scheint aber auch nicht das Ziel zu sein. Das Ziel ist Ägypten. Was könnte denn für die Türkei anderes in Betracht kommen als die Wiedereinverleibung Ägyptens in ihr Reich, vielleicht auch Tripolis. Und mit der gleichzeitigen Ausdehnung der Türkei, durch deren Einschluss in den mitteleuropäischen Staatenverband würde sich Deutschlands Vorherrschaft über diesen Teil der Welt ausdehnen. So wachsen die Ziele des Kriegs im Krieg. Immer opferreicher und schwieriger wird dadurch das Unternehmen.

L., der jetzt einige Tage hier war, und vorher den Haag, Berlin, Wien, München besucht hatte, ist der Meinung, dass der Krieg vor 1917 nicht zu Ende gehen werde. Er meinte, ein militärischer Sieg der Entente wäre unwahrscheinlich. Der Krieg werde durch die allgemeine Erschöpfung beider kämpfenden Teile endigen. Bange Sorge erfüllt ihn über die Zukunft Europas. Vor einigen Tagen hatte ich eine zweistündige Unterhaltung mit Baron v. R. Interessante Darlegungen über die Vorgeschichte des Kriegs. Deutschland hätte den Krieg vermeiden können, wenn es seinen Einfluss geltend gemacht hätte, um Österreich zu einem Ausgleich mit Serbien zu zwingen. Dann hätte es sich aber auch Österreich entfremdet, und wäre dem Wunsch der Entente gemäss völlig isoliert gewesen. Meiner Ansicht nach lag dann der Fehler der deutschen Politik in der Zulassung jenes Ultimatums, das kein Zurück mehr gestattete.

Bei dem Studium der politischen Geschichte der letzten 22 Jahre vor dem Weltkrieg sehe ich, dass es im Verlauf dieser Zeit viel schwerere Konflikte gegeben hat, als der vom Sommer 1914 war. Dennoch haben diese nie zum Krieg geführt, weil der Wille zum Krieg immer schwächer war als der Wille zum Frieden. Ich sehe auch wie das Aufkommen der deutschen Flottenpolitik vom Jahre 1895 an jene Situation schuf, die bei England die Angst vor Deutschland erstehen liess. Jene Angst war es aber, die selbsttätig eine Annäherung des Inselstaates zu Frankreich und Russland herbeiführte und dort die ersterbende Revanchelust, hier die sonst ohnmächtige Tatenlust der Grossfürsten am Leben hielt oder, besser gesagt, am Sterben hinderte. Diese Flottenpolitik war eine Überflüssigkeit. Was nützt die deutsche Milliardenflotte, die die europäische Unruhe geschaffen hat, dem Deutschen Reich? Man wird nicht bestreiten können, dass das völlige Fehlen der Flotte die Lage Deutschlands nicht im geringsten ändern würde. Mit den Seeminen und Unterseebooten könnte das Reichsgebiet billig und wirkungsvoll geschützt werden. Es sind nicht die grossen Kampfschiffe Deutschlands, die die englische Flotte zur Untätigkeit verdammen. Wirklich lehrreich ist es, jetzt die Reden nachzulesen, die die deutschen Staatsmänner im Reichstag anlässlich der Flottenvorlage gehalten haben. So sagte Reichskanzler Fürst Hohenlohe in seiner Begründung der ersten grossen Flottenvorlage am 18. März 1897:

«Nichts könnte uns im Ernstfall kostspieliger werden als eine zu schwache künftige Flotte, die zu nichts da sein würde, als sich heldenmütig in den Grund bohren zu lassen. Wir müssen eine Flotte haben, die unsere Küste zu schützen imstande ist, indem sie auf hoher See dem Angreifer die Spitze bietet. Das ist das Ziel, welches wir erstreben. Je schneller wir es erreichen, desto grösser wird das Gewicht sein, welches wir zu dauernder Aufrechterhaltung des Friedens in die Wagschale zu werfen vermögen.»

Ist nicht alles anders gekommen, als hier angenommen wurde? Waren es schliesslich nicht die Flottenpläne, die Deutschland 1899 verhinderten, die angebotene Allianz mit England einzugehen, das damals mit Frankreich und Russland auf sehr schlechtem Fuss stand? Der geheime Gedanke, der der deutschen Flotte zugrunde lag, hinderte jenen Anschluss. Er hätte der deutschen Ausdehnung und dem Frieden sicher mehr gedient als die Flotte. Das stärkste Landheer im Verein mit der stärksten Flotte hätten die Welt beherrscht.

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«Selbstbeschränkung allein ermöglicht das friedliche Zusammenleben der ... Völker. Von einander geschieden dagegen, in verzehrender Eifersucht eines gegen alle gerüstet, ohne eine gewisse Föderation, werden sie nie zu wirtschaftlicher und politischer Blüte gelangen. Also: entweder ewiger Krieg oder ein sie umfassender, mit schiedsrichterlichen Befugnissen ausgestatteter Friedensbund». Dieser Satz steht in einem in der «Vossischen Zeitung» (30. September) veröffentlichten Artikel des Historikers Friedjung. Leider ist er nur im beschränkten Sinn gedacht. Er bezieht sich nur auf die Balkanvölker, während er eine Wahrheit ist für ganz Europa.