Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. Juni.

Die Rede des Abg. Seitz im österreichischen Abgeordnetenhaus (13. Juni), die die «Arbeiterzeitung» im Wortlaut veröffentlicht, geht nur andeutend auf die Schuldfrage ein. Seitz setzt die «objektiven Ursachen» in den Vordergrund, schweigt aber nicht über die noch wichtigem Vorgänge des eigentlichen Anlasses. Er sagt:

«Die Sozialdemokraten haben auch von allem Anfang an mit Nachdruck betont, dass man mit dieser allgemeinen Erklärung nicht um den wichtigsten Punkt herumkommen kann, dass man die politische und persönliche Verantwortung derer feststellen muss, die im Jahr 1914 an den maßgebenden Stellen standen, und deren intellektuelle oder moralische Minderwertigkeit oder Unzulänglichkeit den Krieg verschuldet hat.»

Unrichtig ist nur, wenn Seitz sagt, dass diese Feststellung in jedem einzelnen Staat «vor allem Aufgabe der sozialdemokratischen Parteien sein wird.» Es wird das keine Partei-, sondern eine Menschheitsaufgabe werden. Immerhin ist die Erklärung Seitz’ erfreulich, dass seine Partei es als ihre erste Pflicht ansieht, die Verantwortlichkeiten in Österreich-Ungarn festzustellen.

Einen merkwürdigen Zwischenruf hat am 15. Juni im österreichischen Parlament ein deutscher Abgeordneter gemacht. Auf einen Zwischenruf, der auf die in Galizien ausgeübte grausame Militärjustiz hinwies, rief der Abgeordnete Heine ergänzend hinzu: «Noch viel zu wenig sind in Galizien gehängt worden». Dieser Roheitsakt, der eine Schande für das österreichische Parlament und eine Schande für das Deutschtum in Österreich ist, erregte berechtigten Aufruhr im ganzen Haus. Erfreulicherweise drückte nachher der Vorsitzende des deutschen Nationalverbands sein Bedauern über diesen Zwischenruf aus. Den Namen des Abgeordneten Heine wird man sich aber merken müssen.

Die Stockholmer Erklärungen der deutschen Mehrheitssozialisten werden bekannt gegeben. Sie sind nicht unwichtig, auch wenn man nicht weiß, wie weit die deutsche Regierung mit ihnen einverstanden ist, und ob die deutschen Sozialdemokraten in Vertretung dieser Friedensziele neben ihren ausländischen Parteigenossen nicht auch die Machthaber ihres Vaterlands zu Gegnern haben. Soviel steht jedoch fest, dass dieses Friedensprogramm die Grundlage für Erörterungen hätte abgeben können, wenn es etwa im Dezember oder Januar aufgestellt worden wäre, ehe der unglückselige Unterseebootkrieg beschlossen und damit auch Amerika in den Krieg mit hineinbezogen wurde. Es sind in diesem Krieg deutscherseits viele Fehler gemacht worden, der verhängnisvollste scheint mir aber dennoch der zu sein, der die Beteiligung Amerikas an dem Krieg als eine nicht beachtenswerte Erscheinung ansah. Der Krieg wäre zu Ende, wenn dieser Fehler nicht gemacht worden wäre. Und wenn die strategischen Zeitungsherolde heute auch schon zu beweisen versuchen, dass selbst der gelungene Aufmarsch amerikanischer Heere die deutschen Stellungen nicht erschüttern, den Krieg nicht entscheiden könne, so darf doch, die Richtigkeit dieser Behauptung angenommen, die Tatsache der Verlängerung des Kriegs, die tägliche Vermehrung seiner Opfer und seiner versengenden Kosten nicht übersehen werden. Niemals können die Hoffnungen so weit gehen, dass der Krieg ein Ergebnis zeitigen könne, das diesen Opfern entspricht. Somit ist jeder Tag der Verlängerung ein Verbrechen. Und diese Verlängerung steht fest. Die Franzosen haben durch die Teilnahme Amerikas ihren Elan aufgefrischt, so dass der Ministerpräsident Ribot neulich in der Kammer die Forderung des Siegs proklamierte (man muss siegen oder unterliegen) und das Dogma des Jusqu’auboutismus neuerdings in den Vordergrund stellte.

Die Hoffnung auf Sieg durch eine der kämpfenden Gruppen führt zur völligen Vernichtung Europas. Der Friede der Verständigung, den die deutsche Sozialdemokratie in Stockholm gefordert hat, weist den Ausweg der Vernunft.

Im Einzelnen sind die Erklärungen der Sozialdemokratie wohl noch ergänzungsfähig und kritisierbar. Manches, was gesagt wurde, wie manches was unterblieb, ist wohl aus Gründen einer innerpolitischen Taktik gesagt, bezw. unterlassen worden. Der Standpunkt, den sie bezüglich Eisass-Lothringen einnehmen, ist nicht glücklich. Sie hätten, gestützt auf die von ihnen angegebene Bevölkerungsstatistik, ruhig die Entscheidung der Bewohner des Reichslands anrufen oder einen Kompromiss durch Vorschlag der Abtretung rein französischer Landesteile gegen irgendwelche Kolonialerwerbung anregen können. Am schwächsten finde ich die Forderungen für die künftige Friedensorganisation dargelegt. Wie das überhaupt bei der deutschen Sozialdemokratie ein schwacher Punkt ist. In ihrer Geringschätzung des von ihnen als «bürgerlich» bezeichneten Pazifismus, gelangen sie nicht dazu, das von diesen geschaffene Material zu erkennen und zu benützen. Die Forderung «Anerkennung des internationalen Schiedsgerichts, dem alle (!!) Streitigkeiten zwischen den Staaten vorzulegen sind», ist Utopisterei. Das System einer zwischenstaatlichen Ordnung ist bis in die Einzelheiten durchdacht und festgelegt und besteht keineswegs in einer Anerkennung des «Schiedsgerichts» als Allheilmittel. Noch mehr beeinträchtigt wird diese wichtige Bekundung durch eine viel mehr ins Einzelne gehende Forderung von Reglementierungen des künftigen Kriegs. Wer an einen künftigen Krieg glaubt, glaubt nicht an die Möglichkeit einer Staatenorganisation, und indem ihm der Glaube fehlt, fehlt ihm die Fähigkeit zur Mitarbeit an der Errichtung dieser Organisation. Der Krieg kann nicht reglementiert, er kann nur beseitigt werden. Hol’ der Teufel das Seebeuterecht und seine Beseitigung, die sogenannte «Freiheit der Meere», das Verbot der Bewaffnung der Handelsschiffe, die Bestimmungen, dass im Krieg Welthandel, Rohstoff- und Nahrungsmittelversorgung, dass die Postlieferung gesichert sei. Kein Weltwille wird uns im Krieg jemals diese Sicherheiten garantieren. Alle Abmachungen, die darauf hinzielen, sind Humbug, und sie wären, wenn ihre Durchführung möglich wäre, Verrat an der Sache des Friedens, weil sie den Krieg erleichtern würden. Es ist bedauerlich, dass die deutsche Sozialdemokratie durch die Einfügung dieser beliebten Forderungen der Militaristen, die den Kampf für den Frieden immer nur als eine Humanisierung und Reglementierung der Bestie Krieg angesehen, zu der ihren gemacht haben. Sie haben dadurch das Vertrauen nicht gestärkt, dass sie für die unendlich hohe Aufgabe, deren Lösung die Menschheit nach diesem Krieg erwartet, das richtige Verständnis haben.

Vor allen Dingen haben die deutschen Mehrheitssozialisten es unterlassen, darüber eine Andeutung zu machen, wie sie sich zur Umwandlung der innern deutschen Politik stellen. Einen Fehler, den die österreichischen Sozialisten bei ihren in Stockholm abgegebenen Erklärungen nicht begangen haben. Die deutschen Vertreter sind dabei sicherlich von der Formel ausgegangen, dass die innere Politik eines Landes das Ausland nichts angehe. Diese Formel ist falsch. Nur Unkenntnis über die Macht und den Umfang der gegenwärtigen zwischenstaatlichen Abhängigkeiten vermag sie zu begründen. Alle Völker sind interessiert an der inneren Gestaltung der anderen Staaten. Das beweist die russische Revolution, die in Deutschland und Österreich-Ungarn zur Erkenntnis führte, dass mit ihr der Zweck des Kriegs gegen Russland verloren gegangen sei. Wäre diese innere Umwandlung Russlands vor dem August 1914 erfolgt, so wäre dieser Krieg nicht zum Ausbruch gelangt. Wer kann dem gegenüber noch behaupten, dass uns die innern Angelegenheiten eines andern Staates nichts angingen. Tun wir dies, dann stecken wir einfach unsren Kopf in den Sand. Unsere Rüstungen sind stets bedingt gewesen durch die Rüstungen der anderen Staaten, also durch eine innere Angelegenheit dieser. Und ebenso waren unsere Rüstungen, die unsere Rüstungsfanatiker stets als eine nur uns betreffende innere Angelegenheit bezeichneten, womit sie sich gegen jeden Versuch auf gegenseitiges Verständnis über eine Rüstungseinschränkung zur Wehr setzten, eine Einmischung in die innere Angelegenheit der anderen.

Die Gesellschaft der Staaten besteht, und wenn man dies auch nicht wahr haben will, so machen sich die Lebensbedingungen dieser Gemeinschaft dennoch geltend. Die Umwandlung der innern deutschen Politik von einer junkerlich-autokratischen zu einer demokratischen ist die einzige Garantie für eine wirkungsvolle und bewusste Mitarbeit Deutschlands an einer, den Krieg zwischen Kulturvölkern ausschließenden, zwischenstaatlichen Organisation. Eine Erklärung, die die Beendigung dieses Kriegs zum Ziel haben soll, musste diese wichtige Frage erwähnen.