Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Juli.

Im Haag sitzen zurzeit je drei Vertreter der deutschen und englischen Regierung an einem Tisch zusammen. Sie beraten über die Regelung der Gefangenen-Angelegenheiten. Die bisherige Betreibung durch neutrale Dritte erwies sich als zu umständlich und zeitraubend. So entschloss man sich zu dem abkürzenden Verfahren einer unmittelbaren Konferenz, was sicherlich nur im Interesse der Gefangenen jeder der beiden Länder liegt. Der «Manchester Guardian» meint, dass durch das Gegenübersitzen der Beteiligten manches Hindernis überwunden werden dürfte, das bei der früheren Distanz unüberwindlich schien. Das Blatt bedauert nur, dass man nicht früher dazu schritt. Wird man nicht auch später, wenn einmal die Vertreter beider Staaten zu Friedensverhandlungen zusammentreten werden, es bedauern, dass man den Weg der direkten Aussprache nicht früher unternahm, dass man den Zeitungen und Generälen die Friedenserörterung überließ, oder den offiziellen öffentlichen Reden der Staatsmänner, die dabei mehr bedacht sein mussten, den patriotischen Elan ihrer Landsleute wach zu halten als mit den Gegnern zur Verständigung zu gelangen. Diese drei Engländer und drei Deutschen, die da im Haag an einem Tisch zusammensitzen, sind inmitten dieses finstern Blutdunsts der Gegenwart eine Erscheinung aus einer andern Welt, ein blasser Strahl von Licht aus ferner Vergangenheit und noch fernerer Zukunft.

Die Stimmung in Deutschland hat jetzt einen hohen Grad von Erregung angenommen. Revolten in Düsseldorf, Stettin und Gleiwitz. Lieberall arbeiten die Kriegsgerichte. Urteile bis zu sechs Jahren Zuchthaus. Der Wolff-Bericht über Gleiwitz meldet, dass aus dem Westen gekommene Elemente die Unzufriedenheit in die Bevölkerung trugen. Wie naiv! Als ob die Unzufriedenheit der Bevölkerung erst durch von auswärts kommende Leute erregt werden müsste. Sind denn die Lebensverhältnisse so sehr erträglich, dass die Unzufriedenheit erst künstlich erzeugt werden muss? Dass die Stimmung im ganzen Land ernst ist, kann doch nicht mehr verschwiegen werden. Im sächsischen Landtag (3. Juli) hat es sogar ein nationalliberaler Abgeordneter ausgesprochen, dass eine tiefe Gärung durch das Land gehe, und er fügte hinzu: Als guter, monarchisch gesinnter Sachse halte er sich für verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, dass die Soldaten nicht aus Königstreue kämpften. Die Regierung, die darauf ihre Schlüsse baue, komme zu falschen Ergebnissen.

Im Verfassungsausschuss des Reichstags, der nun wieder zusammengetreten ist, werden ähnliche Stimmen laut. Der Abg. Müller-Meiningen rief der Regierung zu:

«Wenn Sie kein Ventil öffnen, werden Sie den größten Gefahren entgegengehen . . . Die Erfahrungen von 1813 sind nicht vergessen. Wir können nicht bis zum Frieden warten.»

Die Idee des Sommerfriedens ist allenthalben aufgegeben. Der nationalliberale Abg. Junck sagte es ganz offen:

«Der Krieg wird sobald nicht zu Ende gehen. Ein Umschwung in der Stimmung des Volks ist unverkennbar. Verzug wäre für die deutsche Sache nicht ungefährlich.»

Auch der Abg. Gradnauer (Mehrheitssozialist) sprach es offen aus: «Das deutsche Volk steht vor langen Kriegsnöten» und selbst ein so gemäßigter Mann wie der Abg. Pachnicke warnte, indem er sagte:«Im Reiche sind schwere Gefahren im Anzug.»

Unter diesen Sturmzeichen trat gestern der Reichstag zusammen, eröffnet mit einer wohltönenden Rede des Präsidenten, worin wieder von «unserm hochherzigen Friedensangebot» die Rede ist, das die Feinde nach Ansicht des patriotischen Redners anscheinend nur aus purem Grausamkeitskitzel und aus Freude an Elend und Not «schnöde» abgelehnt haben, und worin wiederum betont wird, dass Deutschland nur einen Verteidigungskrieg führt, der ihm «aufgezwungen» wurde. Wohltönende Redensarten, die nichts besagen und wohl auch kaum mehr geglaubt werden. Der Zweck des Zusammentritts des Reichstags ist die Bewilligung neuer fünfzehn Milliarden. Hundert Millionen kostet der Krieg jetzt täglich. Die nächsten Tage werden ernste Auseinandersetzungen bringen.

Der Lehrstuhl Prof. Wagners ist durch die Professoren Schumacher und Sombart besetzt worden. Schumacher (aus Bonn) ist einer der führenden Annexionisten und Sombart der Verfasser des chauvinistischen Buchs «Händler und Helden». Die Berufung beweist, welche Gesinnung die Regierung beherrscht.