Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

18. April (Lugano) 1915.

Eine bemerkenswerte kleine Geschichte erzählt Gertrud Bäumer in ihrer in der «Hilfe» erscheinenden «Heimatchronik» (11. April). Sie schreibt:

«Wie unbedingt und stark der Patriotismus der Kinder ist! Ich sah ein kleines Mädchen, dem ein Sommerhut gekauft wurde. Ihr ganzer kindlicher Evasinn hatte sich an einen weissen Strohhut geklammert, der ihr dann auch, nach allerhand praktischen und Geldbedenken der Mutter zugestanden wurde. Als das Ladenfräulein dem Kind den Hut aufsetzte, war sie so unbesonnen, zu bemerken: ,Es ist ja auch das feine englische Stroh’. Da war sie aber hereingefallen. Das kleine Mädchen zog mit festen Händen den Hut wieder herunter und legte ihn auf den Ladentisch. Dann sprach sie nur das eine herzhafte und deutliche Wort ,Äääx!’ Und alle Begütigungen der Verkäuferin, dass man das Stroh nur englisches ,nannte’, dass es aber deutsches sei, prallten machtlos an ihr ab.»

Es wäre nun sehr interessant, die Gründe dieses «Ääx» aus dem zehnjährigen Mädchenmunde psychologisch klarzulegen. Aus eigenem philosophischhistorischen Denken ist die kleine Kröte sicherlich nicht dazu gekommen. Sie weiss nicht warum. Von den Grossen hat sie es so gehört und macht es nach. Wie die Mode. Aber die Grossen! Haben die ihr antienglisches «Ääx» alle aus der Überzeugung heraus? Machen sie es nicht ebenfalls einer dem andern nach?

Hier ist ein Übelstand, den unsere geistige Kriegsfürsorge beinahe übersehen hat. Man muss den Leuten, die England hassen sollen, auch eine wissenschaftliche Begründung mitgeben. Mit der politischen Abneigung und des auf Leitartikeln und Gedichten begründeten Hassgefühls geht es allein nicht. Der Deutsche ist zu gründlich dazu. Er will für seine Gefühle eine Motivierung, die tiefer schürft als der Journalist und der Dichter es vermögen. Und wie nach Goethe das Wort, stellt unter dem Mangel einer gewissen Voraussetzung, hier ein Gelehrter zur rechten Zeit sich ein. Was lässt sich nicht alles «wissenschaftlich» begründen. Werner Sombart, der uns kurz vor Ausbruch des Kriegs in einer Feuilletonserie russische Idealzustände begeistert geschildert hat, erfasste die Lücke der geistigen Kriegsfürsorge und begründet uns jetzt wissenschaftlich das antienglische «Ääx». «Händler und Helden» betitelt er — stabreimend — seine Schrift, in der er den wissenschaftlichen Nachweis erbringt, dass das ganze englische Volk aus Krämerseelen bestehe, dass seine Politik, Philosophie, seine Rechts- und Staatsauffassung vom Krämergeist geschaffen und beeinflusst werden. Während das deutsche Volk allein vom Lohengringeist eines lichten Heldentums beseelt ist. Aus diesem Geist heraus erklärt Sombart, dass uns (Deutschen) der Krieg selbst als ein Heiliges, «als das Heiligste auf Erden» erscheint.

Zur Bekräftigung dieser Wertung zitiert er uns Schiller und Goethe, und spricht er von der «traurigen Schrift des alten Kant über den ,Ewigen Frieden’!». Er nennt ihn unter den «repräsentativen Deutschen» «die einzige unrühmliche Ausnahme». Dass Kant auch längst vor seiner 1795 erschienenen Friedensschrift, die trotz Treitschke, Bernhardi und Sombart ein hohes Denkmal deutschen Geistes bildet, jene Ideen in andern Werken bereits vertrat, zu einer Zeit also, wo er noch nicht zu den alternden gezählt werden konnte, weiss Sombart nicht. Auch nicht, dass dem Goetheschen Vers «Träumt Ihr den Friedenstag» usw. andre, hervorragendere Stellen des grossen Weimaraners gegenüber zu setzen sind, die die Unkenntnis Sombarts ergänzen könnten, dem «von repräsentativen Deutschen pazifistische Äusserungen aus keiner Zeit bekannt geworden sind». Nun, pazifistische Äusserungen Goethes sind in der «Friedens-Warte» wiederholt zum Abdruck gebracht worden. (So 1913 S. 101, 1914 S. 25 und 53). Eine besonders schlagende wollen wir hier davon anführen (die andern können nachgelesen werden). Sie lautet: «Der Krieg ist in Wahrheit eine Krankheit, wo die Säfte, die zur Gesundheit und Erhaltung dienen, nur verwendet werden, um ein Fremdes, der Natur Ungemässes, zu ernähren».

Das ist doch eine Definition, die zur Genüge beweist, dass Sombart nicht berechtigt ist, den grossen Weimaraner zum Eideshelfer zu machen. Er wird noch mehrere solcher «unrühmlicher» Ausnahmen unter «repräsentativen Deutschen» finden. Dürfen wir ihn an Moltke erinnern, der, trotzdem er den Krieg als ein Element der göttlichen Weltordnung bezeichnete, noch 1881 diese Ansicht dahin einschränkte, dass er damit keineswegs sagen wollte, dass er den Krieg wünsche, nur dass er ihn für ein nicht zu vermeidendes Übel halte. Also immerhin für ein Übel und nicht für das «Heiligste auf Erden»! Und derselbe Moltke gab zu, «dass jeder Krieg, auch der siegreiche ein Unglück für das eigne Volk ist, denn kein Landerwerb, keine Milliarden können Menschenleben ersetzen und die Trauer der Familien aufwiegen». Ja, dieser repräsentative Deutsche bekennt sich, 41jährig, sogar: «offen zu der vielfach verspotteten Idee eines allgemeinen europäischen Friedens».

Und was würde Herr Sombart zu folgender Ansicht sagen:

«Man hat gesagt, wenn es keinen Krieg mehr gäbe, würde die Menschheit ihre moralische Energie einbüssen, indem sie für eine Idee, sei es Ehre, Treue, Ruhm, Vaterlandsliebe oder Religion ihr Leben zu opfern verlerne. Das dürfte nicht ganz unbegründet sein. Übrigens je seltener der Krieg in Europa, je nötiger wird es für die übersprudelnde Kraft der jungen Generationen, ein Feld der Tätigkeit zu finden. England hat sich in allen Weltteilen und auf allen Meeren einen Schauplatz geschaffen, wo es die nachgebornen Söhne seines Adels versorgt, den kriegerischen Mut seiner Jugend erprobt, seinem Handel neue Kanäle, seinem Gewerbefleiss neue Märkte eröffnet . . .»

Was Sombart dazu sagen wird? «Händlergeist» wird er urteilen. Und doch hat dies ein «repräsentativer Deutscher» gesagt. Und zwar ebenfalls Moltke in einem 1841 in der «Augsburger Allgemeinen Zeitung» veröffentlichten Aufsatz.

Und so könnte ich noch ähnliche Äusserungen über den Krieg aus dem Munde «repräsentativer Deutscher» anführen, so von Herder, Jean Paul und vielen andern. Und hat nicht selbst Schiller den von Sombart so verfehmten «Händlergeist» als Triebkraft der Kultur bezeichnet als er das Distichon schrieb:

«Euch, Ihr Götter, gehöret der Kaufmann! Güter zu suchen
Geht er, doch an sein Schiff knüpfet
das Gute sich an».

Sombart zitiert aber lieber Schillers Wort «Das Leben ist der Güter höchstes nicht», das er seinem Buch als Motto voransetzt. Bei aller Hochachtung vor dem Schillerschen Geist, vor den Werten seines Idealismus, mit dem er unsre Jugend begeistert, kann man diesen Satz nur als eine schöne, für Sonntagspredigten geeignete Phrase bezeichnen, die an der ruhigen Vernunft des Werktags zerstiebt. Es ist ein Lehrsatz ohne Beweis. Denn da wir von dem, was ausserhalb des menschlichen Lebens liegt, nichts wissen, können wir auch nicht urteilen, ob es höhere Güter als dieses Leben gibt. Mit ihm hört für den Menschen alles Seiende auf. Es soll damit nicht gesagt werden, dass wir mit unserm Leben nicht höheren Zwecken dienen sollen. Wohl aber nur in dem Sinne, dass wir nicht nur für uns allein, sondern auch für unsre Mitmenschen, und besonders für die, die nach uns kommen, leben sollen, indem wir für sie wirken. Wirken, — nicht sterben! —

Einfach auf die Lebenshinopferung unsre Kultur aufbauen, heisst den Staat verleugnen, der lebendige Kräfte braucht, und dessen höchste Aufgabe es ist, das Leben seiner Bürger, sogar der noch ungebornen, zu schützen. Ist nicht unser Jahrhundert das Jahrhundert des Kindes genannt worden, weil wir in dem Reichtum an Leben die Grösse der staatlichen Gemeinschaft, das Heil der Menschheit erblicken? Und nun kommt Einer und will uns weis machen, dass die unerhörten Menschenopfer ein Glück sind?

Niemals wird ihm das gelingen. Wenn nicht wir, die aus dem Krieg Heimkehrenden werden ihn eines Bessern belehren.

Sombarts Schrift ist ein trauriges Denkmal einer trüben Zeit, eine Schädigung des deutschen Ansehens in der Welt, eine Verleugnung wahrer Grösse und wahrer deutscher Kultur. Sie zeigt uns den Verfall durch den Krieg, nicht die Auferstehung.