Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. Juli.

Die Nachricht von der Ermordung des Zaren hat sich als falsch erwiesen. Der Zar lebt und befindet sich in Sicherheit. Wo er sich befindet wird nicht gemeldet. Es ist anzunehmen, dass das Gerücht über die Ermordung doch einen Hintergrund hat. Vielleicht wurde ein Angriff versucht, vielleicht auch ist der Zar auf dem Transport misshandelt worden. Ganz aufgeklärt erscheint die Angelegenheit noch nicht.

Der Rückzug am Piave und das dadurch bewirkte Scheitern der österreichisch-ungarischen Sommeroffensive muss in der Monarchie Gerüchte ungeheurer Art über die dabei erlittenen Verluste ausgelöst haben. Sonst hätte sich der ungarische Ministerpräsident Weckerle nicht veranlasst gesehen, im ungarischen Abgeordnetenhaus zu erklären, dass der Verlust bei dem Rückzug — «die Verluste waren leider riesig» — an Toten, Verwundeten und Kranken annähernd hunderttausend Mann betrugen. Die Gefangenen sind dabei nicht miteingerechnet. Es kann aber angenommen werden, dass — und es ist nur von dem Rückzug die Rede, nicht von den Opfern der gesamten Offensive — 15—20 000 Menschen dabei ihr Leben, 30—50 000 dauernd ihre Gesundheit liesen. Es scheint, dass der Hunger dabei eine große Rolle gespielt hat. Wofür sind diese Opfer gebracht worden? Damit der Traum des Admirals Tirpitz, des Grafen Reventlow und anderer Eroberungsideologen in Erfüllung gehe und die flandrische Küste deutsch werde. Darum mussten die Völker Österreich-Ungarns neuerdings 100 000 ihrer Kinder opfern. Der Ministerpräsident Weckerle hat der Sache der Kriegsgegner einen großen Dienst geleistet. Er hat damit angefangen, die Beschönigungsversuche von Schlachtenopfern aufzugeben. Es ist zum erstenmal, dass ein Staatsmann vor der Nation und der Welt unumwunden zugibt, «unsere Verluste waren riesig» und die Zahl hinzufügt. Bis jetzt haben wir in diesem Krieg immer nur von den riesigen Verlusten der andern gehört. Zum erstenmal kommt das offene Eingeständnis von den eigenen Verlusten. Das wollen wir dem ungarischen Ministerpräsidenten hoch anrechnen. Nur ein Beschönigungsversuch in seiner Rede sei ihm nicht verziehen, wenn er sagt,

«dass wir, um Menschenleben zu schonen, nach dem die Behauptung unserer Positionen mit riesigen Verlusten verbunden gewesen wäre, uns am Piave zurückgezogen haben.»

Um Menschenleben zu schonen? Dann hätte man diese Offensive nicht beginnen, dann hätte man diesen Krieg nicht führen sollen, dann hätte Graf Berchtold, als es sich um Vermeidung dieses unerhörtesten Gemetzels der Menschheitsgeschichte gehandelt hat, nicht das «Prestige» der Monarchie in den Vordergrund stellen dürfen. Man verschone die schwergeprüfte Menschheit doch mit dieser faden Phrase von Humanität. Hunderttausend Menschen sind einer einzigen, einer Nebenaktion geopfert worden! Das überschreitet die Opfer ganzer Kriege früherer Zeiten. Da höre man doch auf, von Rücksichten auf Menschenleben zu sprechen!