Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. Juni.

Die Rede Kühlmanns vom 24. des Monats könnte man als eine, wenn auch mit bedenklichen Vorbehalten vorgebrachte, Erklärung zur Friedensbereitschaft auffassen. Namentlich in dem Satz, der die unbestreitbare Wahrheit verkündet, dass das Ende dieses Krieges «durch rein militärische Entscheidungen allein» nicht erwartet werden könnte. Das hat aber die Konservativen sehr aufgebracht, so dass während der rasselnden Protestrede des Grafen Westarp der bezeichnende Zwischenruf «Adieu Kühlmann» fiel, und dass in der gestrigen Sitzung der Reichskanzler «Mißverständnisse» aufzuklären sich veranlasst sah, zu denen die betreffenden Ausführungen Kühlmanns Veranlassung geben konnten. Dieser habe damit nur die Verantwortung für die Verlängerung des Kriegs den feindlichen Staaten zuschieben wollen, «denn von einer Erlahmung unseres energischen Abwehrwillens, von einer Erschütterung unserer Kriegszuversicht kann doch selbstverständlich nicht die Rede sein». Trotz dieser rhetorischen Konzession an die Alldeutschen, die Gewaltnarren und die Heeresleitung bleibt die von Kühlmann verkündete Wahrheit doch wahr. Man sieht nur zu deutlich, wer im Reich noch immer die Oberhand hat, wie die Regierung diesen Kreisen Rechnung tragen muss. und dass es deshalb zu einer Beendigung des Kriegs nicht kommen kann. Das deutsche Volk verblutet weiter im Dienst der Gewaltfanatiker und Weltherrschaftideologen.

Kühlmanns Friedensbedingungen sehen harmlos aus. Aber in den wenigen Worten, mit denen sie angedeutet werden, sind so viel Fallstricke vorhanden, dass die Entente, die doch nicht besiegt ist, keineswegs anbeißen kann. Was versteht man unter den «Grenzen, die uns die Geschichte gezogen», was unter dem Wort «sicher» was unter dem Anspruch auf einen überseeischen Besitz, «welcher unserer Große, dem Reichtum unserer bewiesenen Fähigkeiten entspricht». Darunter kann man den status quo aber auch das schönste Annexionistenprogramm verstehen. Die Gegner werden es nur so verstehen und ihre Völker damit anpeitschen. Ebenso abschreckend und abweisend ist die Erklärung über Belgien. Es geht dem deutschen Staatsminister das schöne, und freie und befreiende Geständnis, das deutsch im einstmaligen edlen Sinn des Deutschtums wäre, das Wort, das unbedingte Wiedergutmachung eines begangenen Fehlers verheißt , das Eingeständnis dieses Fehlers (c’est plus qu’un crime, c’est une faute) nicht von den Lippen. Sie wollen oder sie können das erlösende Wort nicht sprechen, das Deutschland und die Welt vor ärgstem Drang befreien könnte, das Wort: Wir verzichten auf Belgien! Sie sehen noch immer nicht ein, dass der Wille, Belgien zu einem Kompensationsobjekt zu machen, den Kernpunkt alles Misstrauens, aller Furcht bildet, die den Weg zu den Verhandlungen verrammelt. Solange man in Berlin glaubt stolz und schroff «ablehnen»zu müssen, «in der belgischen Frage sozusagen als Vorleistung Erklärungen abzugeben ...» solange beweist man nur, dass man noch immer in Berlin nicht begreift, dass die «belgische Frage» eine Grundlage für die Wesensart aller künftigen Welt- und Menschheitsbeziehungen, nicht allein eine reine Gebietsfrage ist. Nur mit dem Verzicht auf Belgien könnte man jenes «gewisse Maß des Vertrauens in die gegenseitige Ritterlichkeit und Anständigkeit» wiederherstellen, das Kühlmann als Vorbedingung für einen Gedankenaustausch der heute kämpfenden Nationen für notwendig erachtet. Aber wer ist schuld daran, dass deutsche Staatsmänner das befreiende Wort, das sie sicherlich schon gern sprechen möchten, nicht herausbringen? Einzig nur jene wahnsinnigen alldeutschen Eroberungsideologen, die noch immer die Macht in Deutschland besitzen und denen jeder Staatsmann, der offen für einen Verständigungsfrieden eintritt, fürchten muss, zum Opfer zu fallen. Vielleicht wäre es ein Akt der Klugheit der Entente, sich klar zu werden über die Zwangslage der deutschen Staatsmänner, die nicht frei reden können, aber inmitten der durch Friedensverhandlungen erweckten Friedenszuversicht des deutschen Volkes umso freier zu handeln in der Lage wären. Das Alldeutschtum könnte zur Ohnmacht verdammt werden, wie Gespenster wenn es tagt, wenn einmal die Friedensverhandlungen begonnen haben.

Im übrigen muss die Rede Kühlmanns ernüchternd auf das deutsche Volk wirken. So unumwunden ist von der Regierung die Uferlosigkeit des Kriegs noch nie zugegeben worden. Endlich ist man von den verzuckerten Phrasen der Reklamen für die Kriegsanleihe abgewichen, die das Ende des Kriegs immer in Aussicht stellen für die nächste Zeit, wie Weiland Meister Tetzel den Ablass, «wenn das Geld im Kasten klingt». Ich verspreche mir von dem Eingeständnis Kühlmanns über die Unmöglichkeit eines Vorhersagens des Kriegsendes und von dem Zitat Moltkes einen tiefen Eindruck auf das deutsche Volk. Dieser Hinweis auf die Prophezeihungen des schon zu Beginn des Kriegs als Propheten angerufenen Feldmarschalls «es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden», und auf die eingestandene Ohnmacht, einem solchen Lauf der Dinge Vorbeugen zu können, wird zum Denken anregen. Und Denken ist die einzige Bestätigung, die das alldeutsche Gift überwinden und zum Ausweg führen kann.

In seinen Bemühungen, die Unschuld Deutschlands am Weltkrieg zu beweisen, wird Kühlmann ebensowenig Glück haben wie seine Vorgänger. Die Entrüstung des Grafen Westarp darüber, dass die Schuld jetzt von England weggenommen und fast ganz auf Russland geschoben wird, ist im gewissen Sinn berechtigt. Sie verstärkt den Glauben an Deutschlands Unschuld nicht. Es gehört ein Maß von . . . ich will Patriotismus sagen — dazu, vor der Welt zu erklären, «Deutschland hat nicht einen Augenblick daran gedacht, diesen Krieg zu entfesseln», Dies ist nur so erklärlich: Wenn die andern Mächte auf Deutschlands Forderungen alle eingegangen, eine unbedingte Niederlage hingenommen hätten, dannwäre es ohne Krieg gegangen. Das wollten die deutschen Machthaber im Sommer 1914, und wenn sie dabei nicht daran gedacht haben, dass dieser Wille zum Kriege führen muss, so haben sie nur ihre Unfähigkeit bewiesen. Dass die leitenden Kreise in Russland aus Angst vor der Revolution den Krieg gewollt haben, trifft vielleicht zu, ohne Deutschland dadurch von der Schuld zu reinigen. Im Gegenteil, es belastet dieser Umstand die deutschen Machthaber noch mehr. Diese hätten eben den russischen Verhältnissen Rechnung tragen und es verhindern müssen, dass jene zum Krieg geneigten Kreise in Russland so gereizt werden, dass ihnen ihr gefährliches Spiel so erleichtert wird. Das österreichisch-ungarische Ultimatum und Deutschlands Hartnäckigkeit allen Vermittlungsversuchen gegenüber waren dann nur umso unverzeihlicher. Im übrigen soll man nicht vergessen, dass die Hoffnung auf die russische Revolution ein von den deutschen Kriegsanhängern für das gelingen des Kriegs wiederholt in Rechnung gestellter Faktor war. Man sollte aber endlich damit aufhören, durch den Hinweis auf gewisse Kriegsparteien und Kriegswoller in andern Ländern die eigne Unschuld beweisen zu wollen. Das sind Jonglierkunststücke. In allen Ländern gab es Kriegsparteien. Gab es sie seit Jahrzehnten. Das ist kein Beweis für die Unschuld Deutschlands. Die Schuld liegt bei jenen, die diesen Kriegsparteien die Arbeit zur Erfüllung ihres sehnsüchtigen Wunsches leicht gemacht haben.