Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

18. August 1914.

Der Kontraste gibt es in dieser anormalen Zeit wirklich die Fülle. Da fällt mir ein, dass am 11. August gerade in Lüttich der internationale Friedenskongress der Katholiken hätte zusammentreten sollen, in jenem Lüttich, das mittlerweile der Schauplatz des erbitterten Kampfes der Deutschen und Belgier geworden ist, das heute durch das Recht des Krieges deutscher Besitz geworden.

Für heute an Kaisers Geburtstag hat man irgend eine grosse Siegesnachricht erwartet. Es ist das so üblich. Auch die Erstürmung Sarajewos im Jahre 1878 war als Geburtstagsgeschenk des Kaisers gedacht. Sie konnte aber erst am 19. August erfolgen. Im übrigen gab es so etwas auch im amerikanisch-spanischen Kriege. So telegraphierte am 3. Juli 1898 Admiral Sampson: «Die unter meinem Befehl stehende Flotte hat der amerikanischen Nation als Geschenk zur Feier des Unabhängigkeitsfestes die Zerstörung der ganzen Flotte Cerveras bescheert. Niemand ist entkommen usw.» (Siehe meinen Artikel «Das Geschenk des Admirals Sampson» in der Sammlung «Unter der weissen Fahne», S. 212). Vielleicht kommt die Siegesmeldung noch im Laufe des Tages. Die gestrige Ankündigung über einen «entscheidenden Sieg» war zu summarisch, ohne Angabe der Einzelheiten und des Kriteriums der Entscheidung. Bei einem «entscheidenden» Sieg will man Zahlen und Tatsachen kennen, damit einem das Ereignis einleuchtet.

Gestern Abend hatten wir in unserm Klub eine Besprechung über die zugunsten der Kriegswohlfahrtspflege zu gewährenden Leistungen. Es war vorgeschlagen, in den Klubräumen ein Spital für 25 Betten zu errichten, Kinder von Reservisten zu speisen, Arbeitslose zu unterstützen, Brot kostenlos zu verteilen. Man einigte sich schliesslich auf die Kinderspeisung, die im grossen Stil unternommen werden soll.

Bei den Erörterungen kam das Elend des Krieges so recht deutlich zum Ausdruck. Abgesehen davon, dass viele Freunde ihre Söhne im Felde stehen, abgesehen davon, dass sie grosse Einbusse an ihrem Vermögen schon jetzt zu beklagen haben, hörte man seitens der Ärzte und anderer mit der Bevölkerung in Verbindung stehenden Personen fürchterliches über das schon jetzt herrschende Massenelend. Aber alles wurde nur vorgebracht, um die Notwendigkeit von Fürsorge-Massnahmen zu betonen. Keinem kam der Gedanke, die Frage anzuregen, ob denn all dieses Elend notwendig war. Dass Kriege vermeidbar, dass besonders dieser Krieg, der von einem Monarchen als ein «Missverständnis» bezeichnet wurde, vielleicht vermeidbar gewesen wäre, kam keinem in den Sinn. Fatum! An die Arbeit der Pazifisten denken diese Leute angesichts des Elends nicht, höchstens indem sie sie verhöhnen, weil jene meinten, es bannen zu können. Diese Narren! Wir haben das Elend nur vorausgesehen und die Wege gezeigt, durch deren Beschreitung es hätte vermieden werden können. Aber keiner derjenigen, die jetzt unter dem Übel leiden, die wir ihnen vorausgesagt haben, hatte es der Mühe wert gehalten, mit uns zu arbeiten, um jenen vorausgesagten Übeln vorzubeugen. Der hundertste Teil dessen, das heute für die Heilung der durch den Krieg geschlagenen — und erst zu schlagenden — Wunden freiwillig hergegeben wird, hätte ausgereicht, die Friedensbewegung so mächtig zu machen, dass dieser Präventivkrieg sicher verhindert worden wäre. Aber so sind die Menschen! Die Linderung des Übels, selbst in der einzig möglichen Unvollkommenheit, erscheint ihnen praktischer als die radikale Vorbeugung. Bei der Linderung sieht man etwas tatsächlich vor sich, bei der Vorbeugung ist das Übel nur Hypothese, nicht greifbar. Wir haben tausende und tausende Mal in unseren Reden und Schriften den Jammer des Krieges geschildert. Wir haben ihnen gesagt, dass die ganze Welt in Flammen stehen werde, dass ihre Söhne und Gatten und Brüder urplötzlich aus dem Beruf gerissen, dass sie zu einem grossen Prozentsatz dem Tode oder dauerndem Siechtum verfallen werden, dass die Geschäfte stocken, das Geld seinen Wert verlieren müsse, dass die Nahrungsmittel sich vermindern, die Arbeitslosigkeit allgemein werden würde, dass Hunger, Seuchen, verzweiflungsvolle Revolten ausbrechen werden, dass aller Verkehr stocken und der Hass der Völker neu auflodern werde, dass alle Kulturarbeit zerstört und die Garantien der Freiheit vernichtet würden. — Sie hörten das alles teilnahmsvoll an, fanden es vielleicht auch furchtbar — aber keiner wollte es sich so zu Herzen nehmen, dass er die Notwendigkeit empfunden hätte, mit uns zusammen für die Vermeidung zu wirken. Es war ihnen allen zu sehr Theorie, an die man nicht recht glaubte, jetzt sehen sie alle plötzlich, was wir vorhergesehen hatten. Jetzt empfinden sie erst, was wir schon in der Voraussicht empfunden hatten, jetzt würden sie uns verstehen, wenn wir zu ihnen sprechen dürften. Man muss das Wort des Clausewitz eben variieren: «Der Krieg ist die Fortsetzung der Friedenspropaganda — nur mit anderen Mitteln».

Die deutsche Regierung verwahrt sich in drohenden Communiqués gegen den von den Franzosen und Belgiern geübten Volkskrieg; gegen das mit höchster Brutalität geübte Franktireurtum. Gewiss, dieser hinterlistige Krieg der Nichtuniformierten ist der Schrecken der Schrecken, und es wäre gut, wenn er vermieden werden könnte, denn die einzige Gegenmassnahme beruht auf schrankenloser Grausamkeit der Abwehr, die sich notgedrungen auch — und zumeist — auf Unschuldige erstreckt. Diese Abwehr züchtet dann jenen Hass, der jahrzehntelang nicht zu überwinden ist. Im Interesse der nach dem Kriege einzusetzenden Verständigungsarbeit wäre es wünschenswert, wenn die kriegführenden Regierungen die Kraft behielten, den Guerilla-Krieg zu verhindern. Leider besteht dafür wenig Aussicht. Dieser Volkskrieg kommt eben nur in dem vom Feinde besetzten Lande zum Ausbruch, dessen Bewohner den Krieg am eigenen Leibe verspürt haben, und die durch die Vernichtung ihres Besitzes, den Verlust von Angehörigen zur Verzweiflung getrieben wurden. Einer derart aufgepeitschten Menge gegenüber haben dann die Regierungen keine Macht mehr.

Es sei nur erinnert, wie das deutsche Volk sich benahm, als zum letzten Mal der Eroberer auf seinem Gebiete hauste. Damals (1809) als Heinrich von Kleist sang:

«Eine Lustjagd, wenn die Schützen
Auf der Spur dem Wolfe sitzen !
Schlagt ihn tot! Das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!»

Den preussischen Landsturm von 1813 schildert Max ]ähns («Über Krieg, Frieden und Kultur» 1893, S. 294) folgendermassen: «Der kreisweise aufgebotene Landsturm wird nicht uniformiert; zu den Waffen, die an abgelegenen Orten lagern, rufen Sturmsignale; mobile Kolonnen werfen sich nach Art der spanischen Guerillas aus dem Hinterhalte auf den Feind; der Späherdienst ist jedes Mannes Pflicht; Pflicht wird es unter Umständen, gewisse Bezirke ganz zu räumen, ja zu verwüsten, kurz: Der Kampf, wozu der Landsturm berufen wird, ist ein Kampf der Notwehr, der alle Mittel heiligt! Der Geist, welcher dieses Gesetz eingab, ist derselbe, welchem Heinrich von Kleists dämonisch-patriotisches Schauspiel Die Hermannsschlacht entsprang. Alle Furien sind entfesselt. Der Landsturm, rief Ernst Moritz Arndt, gebraucht alles, was Waffen heisst, und List und Hinterlist sind ihm erlaubt; denn der Räuber hat in unserem Lande nichts zu tun.» —

Das sagen heute wahrscheinlich auch die belgischen und französischen «Patrioten». Man könnte einwenden, dass mittlerweile ein Jahrhundert hoher Kulturblüte die Sitten verfeinert habe. Mit Verlaub ! Die Kultur hat sicherlich Fortschritte gemacht in diesen hundert Jahren; aber im Krieg verliert sich eben alle Kultur. Es ist ein Rückfall in die Urzustände. Die tierische Natur des Menschen hat sich nicht geändert. Sie ist durch die Kultur in ihren Äusserungen gehemmt worden. Fallen diese Hemmungen weg, dann zeigt sich der Urzustand der Bestie, wie er zu allem Anfang war.

Aber die Bestialität im Krieg, die schrankenlose Roheit ist die Schutzwaffe der Schwachen. Das ist niemals deutlicher ausgeführt worden als auf der II. Haager Konferenz, als bei der Beratung über die Beseitigung der Kaperei der Vertreter Columbiens, Triana, dieses Recht «als ein Element unserer Verteidigung» reklamierte. Er nahm Bezug darauf, dass der Delegierte der Vereinigten Staaten, Choate, die Kaperei als ein Erbe der alten Piraterie bezeichnet hat. «Das ist richtig», fügte Triana hinzu, «wie es richtig ist, dass der Krieg nur ein organisierter Mord ist. Wir behalten uns aber dieses Recht auch für den Augenblick vor, wo das normale Leben aufgehört hat. Wir können uns einfach nicht die Hände gerade in jenem Augenblick binden, wo die Gerechtigkeit verschwinden muss, um von der Gewalt ersetzt zu werden, wo die Barmherzigkeit die Augen verschleiert, und die roheste Kraft die oberste Herrschaft ausübt.»

Die Kriegshumanisierung, die so sehr die Arbeiten der Haager Konferenzen belastete, hat schon damals einen völligen Bankrott erlitten (Sieh mein Buch «Die zweite Haager Konferenz etc.», S. 216), die Praxis wird diesen Bankrott nur bestätigen.