Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 27. März.

Das Berliner Polizeipräsidium erliess nachstehende Verfügung:

«Die Klagen über englische, französische und russische Geschäftsbezeichnungen, Reklameschilder und sonstige Ladeninschriften haben noch immer nicht aufgehört. Weite Kreise der Bevölkerung fühlen sich durch den hiebei zutage tretenden bedauerlichen Mangel an Nationalbewusstsein in ihrem vaterländischen Empfinden verletzt. Es ist daher nunmehr energisch auf die Beseitigung der fremdländischen Inschriften einzuwirken.»

Die Polizei als Förderin des Nationalbewusstseins. Es müssen sonderbare Heilige sein, die sich durch fremdländische Inschriften an Geschäftslokalen in ihrem vaterländischen Empfinden verletzt fühlen, und die in ihrer Sensibilität mit Klagen zur Polizei laufen. Vergessen jene Patrioten, dass Berlin eine Weltstadt ist, und der Fremde nicht aus nationalem Trotz, sondern einfach aus Bequemlichkeit an den Läden zu lesen verlangt, was er dort zu kaufen erhält. Auf die Kundschaft der jetzt mit Deutschland im Krieg befindlichen Nationen wird ja dabei sicher nicht gerechnet, aber auch der Amerikaner, der Westschweizer, der Brasilianer und der Argentinier, nicht zu vergessen, die mit Deutschland verbündeten Türken, Tschechen, Kroaten, Magyaren, Polen, Ruthenen, Slowaken hätten das Recht auf ein Entgegenkommen, wonach ihnen der Kaufmann, der mit ihnen Geschäfte machen will, die Waren auch in andern Sprachen als nur in der deutschen erkennbar macht.

Es ist unerfindlich, wieso durch fremdsprachliche Bezeichnungen ein «Mangel an Nationalbewusstsein» zum Ausdruck gelangen soll. Es handelt sich dabei doch um nichts weiter als um eine Verkehrserleichterung. Wenn wir auf Postdrucksachen, die für den Auslandverkehr bestimmt sind, französische Bezeichnungen neben der deutschen verwenden, tun wir es nicht aus Mangel an Nationalgefühl, sondern aus gesundem Sinn für das Praktische. Die fremdsprachliche Ladenaufschrift will nichts anderes besagen. Sie gleicht in gewisser Beziehung jenem Auskunftsmittel, das wir in frühern Zeiten, als es selbst unter den Deutschen noch Analphabeten gab, durch Anbringung von Bildern oder Abzeichen an Geschäften, Herbergen und Privathäusern reichlich zur Anwendung brachten. Das fremde Wort ist wie das Bild oder die metallene Barbierschüssel für den des Deutschen unkundigen Fremden ein verständliches Signal. Wie angenehm das ist, wird der Deutsche am besten ermessen können, der in einer fremden Stadt inmitten unverständlicher Worte plötzlich deutsche Inschriften gewahrt. Wir möchten diese deutschen Inschriften im Ausland sicherlich nicht missen. Hier in Lugano erfahre ich es stündlich, wie wohl das tut. Und sicherlich wird es keinem Deutschen einfallen, die ausländischen Geschäftsleute darob eines Mangels an Nationalgefühl zu zeihen. Wenn man uns einwenden wird, dass die Franzosen jetzt auch keine deutschen Inschriften mehr dulden würden, so möchte ich dieses Verhalten sicherlich nicht als Tugend ansehen, die wir nachmachen sollen. Gerade, indem wir ihnen nicht alles nachmachen, beweisen wir Nationalgefühl. Der Ausdruck der Grösse dieses Gefühls liegt darin, dass wir nicht kleinlich sein sollen. Deutsch sein heisst nicht, die Speisekarte und das Schaufenster nur deutsch beschreiben. Gerade im Bewusstsein der nationalen Grösse können wir andern Nationen sprachlich entgegenkommen. Die fremden Sprachen sind nun einmal da, und sie weisen in ihrer Verschiedenheit die Menschen darauf hin, sich nach Möglichkeit zu verstehen. Es gibt daher ein Nationalbewusstsein, das durch fremde Ladeninschriften nicht verletzt wird, und auch dieses sollte — weil es das edlere ist — von der Polizei geschützt werden gegen jene sensiblen Gemüter, die ihren vaterländischen Gefühlen einen verkehrten Ausdruck geben.

In dieser Inschriftenfeindschaft liegt zuweilen etwas verborgen, das man aus Nationalbewusstsein kraftvoll unterdrücken sollte: Neid und Missgunst. Neid, weil man jene, die eine fremde Sprache verstehen und sprechen, für etwas Vornehmes zu halten gewohnt war. Also noch ein Überbleibsel aus der Zeit der Anbetung des Fremden. Missgunst, weil der Gevatter Schneider und Handschuhmacher es nicht gerne sieht, dass der Konkurrent nebenan zu verstehen gibt, dass er mit einem grossem internationalen Kundenkreis rechnet. Den Ärger darüber, den man früher trocken hinunter würgen musste, glaubt man jetzt berechtigt zu sein, offen kundzugeben. Darum richtet man Klagen an die Polizei. Der Wiener Volkswitz hat vor Jahren diesen Sprachenneid der Einsprachigen trefflich gekennzeichnet. Sarah Bernhardt gastierte damals in Wien. Auf der Galerie sassen zwei junge Burschen, die kein Wort von der Aufführung verstanden. Sie ärgerten sich, wenn das Parkett über komische Äusserungen auf der Bühne lachte, oder gewisse ernste Stellen durch Beifall verständnisinnig unterbrach. Ein Couplet, das die Situation der beiden Galeriebesucher darstellte, schloss mit dem Kehrreim: «Lieber Franzl, spuck ma obi, dass ma a davon was ham». — Jetzt begnügt man sich nicht mehr damit, ins Parkett zu spucken. Man richtet Klagen an die Polizei.

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Eines der lästigsten Hemmnisse der Kriegsphilosophie ist die Bibel. Das Evangelium der Nächstenliebe ist unbequem, und die Bergpredigt würde vielleicht heute strenge Zensoren finden. Deshalb ist es seit langem das Bestreben gewisser kirchlicher Kreise gewesen, den Krieg auch aus der Bibel zu rechtfertigen. Eine in ihrer Art glänzende Rechtfertigung finde ich in dem Bericht über einen Vortrag, den der Bischof Dr. Faulhaber aus Speyer am 19. März in der Berliner Philharmonie hielt. Der Vortrag, der auf Einladung des Akademischen Bonifazius-Vereins stattfand, führte den Titel «Der Krieg im Lichte des Evangeliums». Der geistliche Redner führte nach der «Vossischen Zeitung (20. März) folgendes aus:

«Vor dem Richterstuhl des Evangeliums kann die Kriegslüsternheit, die Freude am Krieg um des Krieges willen nicht bestehen, aber ebenso verwirft das Evangelium den ewigen Sabbat um jeden Preis, selbst um den Preis unveräusserlicher Lebensfragen eines Volkes. Das Evangelium, als Botschaft der internationalen Menschenliebe hat allerdings keine Freude an der Entzweiung der Völker, aber der Friedensgruss des Evangeliums ist nicht der politische Burgfriede den Menschen gegenüber, sondern der religiöse Friede gegenüber Gott, wie überhaupt das Evangelium nicht ein Buch staatspolitischer Weisheit ist, obwohl auch solche gelegentlich vorkommt, sondern ein Katechismus mit religiösen Zielen. Die religiöse Propaganda mit den Waffen ist im Evangelium verboten, mit dem Rufe: «Die Waffen nieder!» hat jedoch das Evangelium nichts zu tun, denn es lässt der Obrigkeit das Recht, an das Schwert zu appellieren. Nirgends sagt das Evangelium, wie die Friedenspropaganda fälschlich behauptet, dass der Friede den Vorrang habe vor dem Krieg. Im Lichte des Evangeliums ist die Mär vom ewigen Frieden ein Aberglaube, das Evangelium träumt keinen weltfernen Friedenstraum, es hat im ganzen Verlauf der Weltgeschichte den Krieg als unabwendbare Tatsache dargestellt. Einen Zusammenbruch der christlichen Weltordnung bedeutet also ein Krieg nicht. Eine ganze Reihe edler Vertreter des Wehrstands ist in dem heiligen Buche zu finden, der Kriegerstand ist darin keineswegs ohne sittliches Daseinsrecht. Der Hauptmann von Kapernaum, der als grundehrliche Gestalt im Evangelium lebt, war nicht einmal ein Eingeborener des Landes, sondern ein Mitglied der Besatzung des römischen Kaisers, der man in Palästina ähnliche «Liebe» entgegenbrachte, wie heute den deutschen Besatzungstruppen in Belgien. (Heiterkeit). Unmöglich kann das Evangelium den Kriegerstand segnen und dem Krieg fluchen. Einmal erscheint sogar Christus selbst im Evangelium in der Tracht eines Kriegers, der dem bisherigen Herrn der Welt das Haus stürmt. Dieser Vergleich wäre eine Gotteslästerung, wenn dem Kriegerstand und der Kriegstat der Makel der Unsittlichkeit anhaften würde. So ist ein unbedingtes Unrecht des Kriegs aus dem Evangelium nicht zu beweisen, wohl aber ein bedingtes Recht.
Der Redner ging dann unter Heranziehung von Bibeltexten des Näheren auf diese Punkte ein, wobei er in erster Linie das Wort ,Wenn Dich einer auf die rechte Wange geschlagen hat, so halte ihm auch die linke hin!’ beleuchtete, dass es unmöglich so heissen könne: ,Wenn sie Ostpreussen nehmen wollen, dann gebt ihnen Westpreussen dazu!’ (Heiterkeit). Dies Wort ist eine privatrechtliche, nicht aber eine sozialrechtliche Richtlinie. Der Einzelne kann aus höheren Beweggründen auf sein Recht verzichten, aber bei Volksrechten handelt es sich nicht um eigene persönliche Rechte allein, die staatliche Obrigkeit kann Rechte des Landes und des Volkes nicht preisgeben, und die Völker haben das Recht der Lebensbehauptung. Ein eiserner Tatwille strömt von Christus aus, ein Heldenmut auch beim Todesgang. Es sind die Gedanken, die die Kriege führen und die Schlachten schlagen, und der Wille zum Sieg ist es, der in erster Linie den Sieg erringt. Das Gebot von der Friedensliebe ist eine ragende Standarte der christlichen Sittenlehre. Es ist im Krieg nicht aufgehoben. Aus blossem Hass sollen keine Wunden geschlagen werden. Der Hass ist im Krieg ein unheiliges Feuer, ein Strohfeuer, das nicht reichen kann, um lange Kriege zu führen. Die Liebe für König und Vaterland hält fester. Grussformeln des Hasses sind nicht im Sinn des Evangeliums. Das Wort von der Friedensliebe ist aber keine Verfehmung des Kriegs. Dieses Einzelgebot ist, wie jedes andere, im Rahmen der gesamten sittlichen Ordnung zu verstehen; das Einzelgebot ist nicht verpflichtend, wenn dadurch die ganze sittliche Ordnung umgestossen wird. Das Gebot der Liebe zu König und Vaterland bleibt unter allen Umstanden bestehen. Grösser als das Übel des Kriegs ist es z. B., unter den Trümmern von Avezzano zu liegen; ein Erdbeben rafft die Menschen hin, ohne dass sie für grosse Ideale sterben wie unsre Brüder im Feld. Und ein grösseres Übel als der Krieg ist der Scheinfriede, an dem sich die Völker langsam verbluten. Die Rätsel der Vorsehung können wir Menschen nicht lösen, aber wir empfinden, dass der Krieg eine Pflugschar ist, die Unkraut ausjätet, und für die sittliche Erweckung durch den Krieg hat das Evangelium ein Wort gegeben, das geradezu ein Heldensaatkorn genannt werden muss, das Wort, dass man sein Leben gewinnt, indem man es einsetzt und verliert.»

Die «Vossische Zeitung» hat diesen Ausführungen nichts hinzuzufügen. Auch ich möchte ausser der Feststellung dieser Tatsache den Eindruck jener Darlegungen durch Bemerkungen nicht abschwächen. Nur das eine soll nicht unerwähnt bleiben: von dem Frieden, der der modernen Friedensbewegung vorschwebt, ist in den Worten des Bischofs von Speyer nicht eine entfernte Ahnung vorhanden!