Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

11. September 1914.

Ein tiefer Druck liegt über uns. Vor Paris und «im Raume von Lemberg», wie es im geheimnisvollen Generalstabsstil heisst, gehen seit mehreren Tagen bereits grosse Schlachten vor sich. Es hängt viel von dem Ausgang dieses Ringens ab, das dementsprechend blutig genug sein dürfte. Wir erleben vielleicht die blutigsten Ereignisse seitdem die Geschichte berichtet. Wie blutig sie sind, werden wir erst später erfahren; heute werden nur gerüchtweise Zahlen genannt, die einem den Herzschlag stocken lassen. Die ganze Generation, die zwischen 1880 und 1895 geboren ist, muss den Blutzoll für das neue Europa bezahlen. Sie wird stark verringert werden und das Geburtenelend der nächsten Jahre dürfte sich abschreckend gestalten. Die zeugungsfähige Generation der Kulturwelt mordet sich jetzt für . . . ja wofür denn eigentlich? ~ ~ ~

Vor Paris scheint die Sache für die Deutschen schwierig zu sein. Der Generalstab meldet — offen wie immer — die «Zurücknahme des rechten Flügels». Man ist so sehr daran gewöhnt, die Deutschen siegen zu sehen, dass einen die Meldung von einem Rückzug doppelt berührt. Man ertappt sich bei einem Optimismus, der mit dieser Möglichkeit gar nicht rechnete. Man fragt sich: Was dann? — Ist das eine Weltordnung, ein vernünftiges System, wo die Zufälle einer Schlachtgestaltung für das Schicksal eines Volkes ausschlaggebend sein sollen. Und wenn noch so viel Garantien für das endliche Gelingen vorhanden wären, die geringste Möglichkeit eines Zufallseinflusses sollte das System der kriegerischen Entscheidung für immer ausschalten aus den Beziehungen der Kulturnationen. Darauf werden wir, wenn der Normalzustand wiedergekehrt sein wird, ganz besonders hinarbeiten müssen, dass die ungeheure Frivolität des sogenannten geschichtlichen Waltens allgemein erkannt wird.

Krach im internationalen sozialistischen Bureau in Brüssel. Das Exekutivkomitee dieses Bureaus hat im Verein mit dem Vorstand der französischen Sozialistenpartei einen «Aufruf an das deutsche Volk» erlassen, ohne mit den Vertretern der deutschen Sozialdemokratie in Fühlung getreten zu sein. Dieser Aufruf wird nun von den deutschen und den deutsch-österreichischen Sozialisten auf das energischste zurückgewiesen. Es wird darin den belgisch-französischen Sozialisten der Vorwurf gemacht, dass sie von «deutschen Greueltaten» sprechen, die Überfälle französischer Franktireurs und die Greuel der Russen in Ostpreussen vollständig übergehen. Wahrscheinlich wissen sie davon nichts. In keinem Falle sollte eine «internationale» Zentralstelle einseitige — nicht international beschlossene — Proteste erheben.

Überhaupt dieses gegenseitige Protestieren und die gegenseitigen Vorwürfe von Barbarei und Hunnentum! Das Wesen dieser Einrichtung bringt es eben mit sich, dass die unter ihrem Einfluss begangenen Handlungen einen andern Anblick zeigen, wenn man sie von dem Gesichtsfeld der eigenen, einen andern wenn man sie vom Gesichtspunkt der gegnerischen Nation aus ins Auge nimmt.

Die Verse Robert Hamerlings schwirren mir dabei durch den Kopf (An die Nationen!):


«So lange tausendfältig Kain den Abel

Unblutig oder blutig noch erschlägt,

Und nicht der Streit, den einst erregt zu Babel

Des Sprachenkampfes Erinys, beigelegt —

So lang nicht Poesie als Taub’ im Schnabel

Des ew’gen Völkerfrühlings Ölzweig trägt —

So lange, sag ich euch, trotz der Fanfaren des Fortschrittjubels,

sind wir noch Barbaren.»

Im übrigen hat sich die Affäre von Löwen, die, wie vorausgesehen, den Deutschen grossen Hass und viele Vorwürfe eingetragen hat, etwas geklärt. Von den Kunst- und Kulturdenkmälern der Stadt ist, abgesehen von der Bibliothek, nichts verloren. Vier Fünftel der Häuser stehen noch. Die Vernichtung der andern wird durch einen wohlvorbereiteten und wirklich organisierten Überfall begründet. Das Verbrechen liegt eben darin, dass solche Situationen geschaffen werden. Der Verbrecher ist der Krieg.