Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 19. April.

Gestern das Sombartsche Buch zu Ende gelesen. Tief erschüttert. Wenn sich solcher Geist nur regen darf, können wir uns auf die fürchterlichste geistige Pocken- und Ruhr-Epidemie gefasst machen. Es ist der krasseste «Kulturzoologismus» der sich hier breit macht.

Dieses Buch könnte zur Zeit des Faustrechts, vor Einführung des allgemeinen Landfriedens auch geschrieben worden sein. Es ist die Verherrlichung der Faustgewalt und eine Verspottung der organisatorischen Kultur. So mögen Raubritter über die Krämer gespottet haben, die zur Frankfurter Messe gezogen kamen und von ihnen ausgeplündert wurden. Krämergeist! Von Krämergeist erfüllt erscheinen dem Verfasser jene sonderbaren Leute, die den Staat als ein Mittel zur Erreichung «des grössten Glücks der grössten Zahl» betrachten, ein «hundsgemeines Ideal» wie er meint, die in ihrer Logik zu einer «Ablehnung des Kriegs» gelangen, die nur den Verteidigungskrieg anerkennen, dabei die Freiwilligkeit der Beteiligung gewahrt wissen wollen, und aus deren Händlergeist heraus der «Vertrag » als politisches Machtmittel erzeugt wird. Die Gleichgewichtsidee erscheint dem Verfasser ebenso wie die Vertragsidee ein perfides Mittel des Krämergeistes. Ich glaube, er müsste das Weltall in seiner Organisation auch als eine Krämeridee ansehen und den Schöpfer als englischen Händler brandmarken.

Das Bild, das er uns dann von der heldischen Lebensauffassung entwickelt, die angeblich dem deutschen Volk ausschliesslich innewohnen soll, ist nichts weniger als erfreulich. Die Heldenauffassung setzt sich über das Einzelleben hinweg wie über eine Zitronenschale. Das Glück des Einzelnen ist ihr Nebensache. Der Einzelne hat nach Sombart ja gar keinen andern Zweck auf der Welt, als «sich aufzugeben, aufzuopfern, um ein höheres Leben im Geiste dafür zu gewinnen». Das ist recht nett gesagt, recht «gutgesinnt» ausgedrückt, aber um 915 Jahre zu spät hervorgebracht. Damals, um das Jahr 1000 herum, hätte Sombart mit solchen Ideen sicher Erfolg gehabt. Er wäre Gründer einer neuen Sekte geworden, und von Extase erfüllte Streiter hätten sich um ihn geschart. Heute wird man ihn auslachen.

Die heldische Gesinnung erfordert nach Sombart das Vaterland, und der Vaterlandsbegriff verwirft den Gedanken des Gleichgewichts der einzelnen Staaten untereinander, so dass «der Völkerkrieg eine unvermeidliche Begleiterscheinung alles Staatslebens» werden muss, «so lange es ein Leben ist». Der Gegensatz zwischen Händler und Helden löst sich hier auf in dem Gegensatz zwischen Krämer und Krieger.

Hier haben wir es also. Inmitten derjenigen Menschheit, die sich das Leben vernünftig geordnet einrichten will, damit das grösste Glück der grössten Zahl erreicht werde, setzt Sombart das Ideal eines mittelalterlichen Ritters, der sich aufopfern will für ein unbekanntes und undefiniert gebliebenes «höheres Leben» und der infolgedessen, innerhalb dieser nach Ordnung, Ruhe und Sicherheit strebenden Welt, mit seinem Pallasch herumfuchteln muss. Er setzt in diese, sich ordnende Welt einen Rüpel, der stets in Gefahr leben will, und für den es nur «eine Gefahr gibt», die wirklich ausgiebig ist für «eine Gesamtheit, der heute nicht einmal mehr Pest und Cholera drohen (wie schade!), um sie bei Sinnen zu erhalten,» nämlich «die Bedrohung des Vaterlandes durch auswärtige Feinde.» Es gehört nun einmal zum Helden, die Welt voll Feinden ringsum zu haben. Ohne die kann dieses Sombartsche Produkt nicht bestehen. Es ist also für ihn ordentlich ein Glück, dass wir von solchen schlechten Kerlen umgeben sind, sonst könnte sich unser Heldengeist gar nicht entwickeln.

Diese Rolle des randalierenden Rüpels inmitten einer Kulturgemeinschaft, die Sombart hier dem deutschen Volk zuschiebt, ist die höchste Beleidigung für dieses, die höchste Gefahr. Wie soll sich die Zukunft des deutschen Volks gestalten, wenn es inmitten einer immer enger werdenden Kulturgemeinschaft als Ritter mit dem Eisenpanzer dasteht, mit Idealen erfüllt, die nicht mehr von dieser Welt und aus dieser Zeit sind ?

Aus dem Volk heraus müssten derartige verirrte und verwirrende Geistesprodukte die energischste Abfuhr erhalten. Das deutsche Volk wird gerade nach diesem Krieg die Kraft besitzen und den Willen bekunden, dass es nicht gesonnen ist, seine Kultur auf Kraftmeiertum und Menschenvergeudung zu stützen.

Sombart versteigt sich zu der Philosophie Wedekinds, indem er das Leben vor dem Krieg als «Rutschbahn» bezeichnet. «Das Leben war wirklich eine Rutschbahn geworden». Das Leben, das er uns jetzt bauen will, wäre, um mich auf einen andern Philosophen zu stützen, — eine Hühnerleiter.

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Zwei Äusserungen, die aus entgegengesetztem Lager kommen, erscheinen mir sehr bemerkenswert. Die eine bringt uns Graf Reventlow in der «Deutschen Tageszeitung», wo die Neigung zu einer Verständigung mit Russland grösser ist als die von andern Teilen des deutschen Volkes bekundete Neigung zu einer Verständigung mit England. Bei der Erörterung dieser Frage tut Reventlow, unter Anführung eines in Deutschland vorherrschenden Fetischismus an ein naturgebotenes russisches Expansionsbedürfnis nach Westen, Südwesten und Süden, folgenden Ausspruch:

«Das ist Irrglaube: die Richtung russischer Ausdehnungswünsche ist von dem Ort des jeweilig geringsten Widerstandes abhängig. Ist der gefunden oder wird er irgendwo angenommen, so findet sich leicht und gleich ein ,machtvolles’ Schlagwort dafür, das die Welt glauben machen soll, es sei eine Naturnotwendigkeit, dass die russische oder slawische ,Welle’ eben nach dieser Richtung, alles überflutend sich ergösse. So war es auch dieses Mal; aber jetzt am wenigsten ist der Augenblick, sich durch Bluffs oder Schlagworte blenden zu lassen, ganz einerlei, ob diese in Russland oder in England oder in Deutschland selbst gewachsen sind. Sieht man die Dinge nüchtern an, so verschwinden die Phrasengebäude, ebenso wie überkommene Zwangsvorstellungen der gedachten Art.»

Schlagworte und Zwangsvorstellungen! Bilden diese aber nicht überall das Ideengerüst der Kriegspolitiker, die durch solche Schlagworte und Zwangsvorstellungen die Welt in Unruhe halten. So wie der Panslavismus sind auch der «Konkurrenzneid» Englands, der «Revanchedurst» Frankreichs, die «Meer-Beherrschung», die «Freiheit der Adria», die «Vorherrschaft» im Mittelmeer, im Stillen Ozean, in Ostasien nur Schlagworte und Zwangsvorstellungen der vom Krieg Hypnotisierten.

Die andre Äusserung stammt von dem Sozialdemokraten Max Schippel in den «Sozialistischen Monatsheften» (zweite Aprilnummer). Er sagt:

«Einige unsrer heutigen Friedensrufer in der Partei scheinen in der Tat zu glauben, dass jeder Friede an sich, sehe er aus, wie er wolle, ein schlechthin begehrenswertes Ziel sei; höchstens lebensgefährliche Gebietsabtrennungen erklären sie, nicht dulden zu wollen. Aber ohne Gebietsverluste und sonstige unmittelbare Zwangsaderlässe haben doch Deutschland und mehr noch Österreich-Ungarn zuletzt eine Reihe von Friedensjahren durchkosten müssen, die, wenn man sie sich noch um zwanzig oder dreissig weitere solcher «Friedensjahre» verlängert vorstellt, durch ihre ewige allgemeine Beunruhigung, bis zur immer wiederholten notgedrungenen Mobilmachung in Österreich, durch ihre unablässige panikartige Erschütterung und ihre schleichend auszehrende Schwächung des gesamten Wirtschaftslebens, durch ihre rücksichtslose Einschnürung jedes gesunden und berechtigten Entwicklungdranges der Zentralmächte und durch die ebenso rücksichtslose Bevorzugung aller Gegner der Zentralmächte wahrscheinlich viel schlimmer, zerrüttender und verhängnisvoller gewesen sein würden als ein Krieg von ein- oder anderthalbjähriger Dauer, der dann wenigstens auf ein oder zwei Menschenalter, oder auf noch längere Zeit hinaus, um mit Friedrich Engels’ Worten über die geschichtliche Bestimmung des Kriegs zu reden, einen haltbaren ,Ausgleich nach aussen schafft’. Aber er muss eben auch in einem neugeschaffenen Ausgleich, nicht in einem einfachen Rückfall zu den alten Zuständen enden».

Das ist ganz meine Meinung. Dieser Krieg, so führte ich immer aus, ist nur die logische Folge des Friedens, den wir besassen. Wir lebten eben nicht im Frieden, sondern im Nicht-Krieg — im Zustand der Anarchie. Nur dass ich nicht von einem Krieg eine Erlösung erwarte, mit dem die Anarchie nicht dauernd beseitigt wird. Das alte Leid würde sonst von Neuem anheben. Die Hauptsache ist daher nicht die Beendigung dieses Kriegs, sondern die jenes «Friedens», dessen wir uns «erfreuten».

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Ein offizieller Bericht des österreichischen k.k. Pressequartier über die grosse Karpathenschlacht besagt über die dabei von den Russen gebrachten Opfer folgendes:

«Die Nachricht, die in Blättern neutraler Länder stand, dass die vier Wochen Karpathenschlacht eine halbe Million Russen ausser Gefecht gesetzt haben, wird kaum übertrieben sein. Vor unsern Fronten häufen sich die Leichen zu ganzen Wällen, und der Verwesungsgeruch erfüllt weithin die Luft. Noch nach Monaten wird er nicht zu bannen sein.»

Eine halbe Million Russen! Wie leicht das gesagt wird. — Warum erwähnt man dabei aber gar nicht die Zahl unsrer Verluste? Es hat den Anschein, dass auch sie nicht gering waren, sonst würde man es sicher nicht unterlassen, sie anzugeben.

Angesichts dieser unerhörten Menschenopfer ist eine Episode nicht uninteressant, die der Berichterstatter des «Berliner Tageblatts» (16. April) aus dieser mörderischen Schlacht berichtet. Danach hätte der russische Höchstkommandierende dem österreichischen Feldmarschall durch einen Parlamentär Hasen und Eier als Ostergeschenk überreichen lassen mit einer ritterlichen Anerkennung der Leistungen der österreichisch-ungarischen Truppen und mit dem Vorschlag eines dreitägigen Oster-Waffenstillstandes.

Wie liebenswürdig! Angesichts der ganzen «Wälle von Leichen» Ostergeschenke und Bravozurufe, als ob es sich um eine Tennispartie handle und die Menschen nur ausgeworfene Bälle wären.

Und da möchte ich noch ein andres Wort hier festhalten, das mich tief berührte. Es stammt von Karl Renner (Arbeiterzeitung, 16. April):

«An dem Tage, wo über den verwüsteten Gefilden Polens zum ersten Mal die Friedensglocken läuten, hätte ich nur einen Wunsch: Gebt uns neun Monate diese Millionenheere Deutscher, Russen und Österreicher mit all den Rechten des Heeres, und sie sollen Städte, Strassen, Bahnen bauen, Äcker pflügen und die Aussaat bestellen, sie sollen aus einer Trümmerstätte ein Paradies machen, wie die Erde es noch nicht gesehen hat. Das selbe Mittel zu anderm Ziele.»

Sombart würde naserümpfend sagen: «Händlergeist»! Und doch liegt darin die ganze Grauenhaftigkeit der Sache Krieg. Die selben Kräfte, die selben Geldopfer für die Kultur gebracht, könnten die Erde zum Paradies gestalten. Der «Heldengeist» macht aus ihr etwas, was mit dem Worte Hölle nicht genügend gekennzeichnet ist.

Geben wir keine Ruhe, bis es uns gelingt, die Menschen zu jener Vernunft zu bringen, die es ihr ermöglichen wird, sich das Paradies auf dieser Erde zu erbauen.