Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 23. Februar.

Aber eben nur ein Lichtschein. Ich glaube, die Nacht wird noch lange dauern. Es zucken die Blitze, es grollt der Donner, das Chaos erfüllt die Welt. Die Ermordung Kurt Eisners ist eine Tat, die erkennen lässt, wo wir sind, wohin wir steuern. Wir sehen die Welt noch immer mit unsern, an die Friedenszeit gewöhnten Augen an. Noch immer haben wir die Anpassung an das Neue nicht gefunden. Es ist nicht mehr die lebendige Welt von damals. Ein Trümmerhaufen ist es, ein zuckender, vielleicht ein sterbender Körper. Es ist die Agonie. Es war vielleicht schon die Agonie vor dem Krieg, nur war sie äußerlich noch nicht wahrnehmbar. — Was uns am meisten als Fortschritt erschien, war vielleicht Fäulnis. Die Gesundheit des Organismus begann zu verfallen mit der Dissonanz zwischen der technischen und der geistigen Entwicklung. Glück wäre dieser technische Fortschritt nur dann gewesen, wenn mit ihm ein Geist sich entwickelt hätte, der die errungene Maschinerie zum Wohl der Menschheit zu verwenden verstanden hätte. So blieb der Geist zurück, die ausgeklügelten Maschinen kamen in die Gewalt der Rückständigen, der Mittelalterlichen, und so wurden sie verwendet zur Ausbeutung, zur Schädigung, zur Vergewaltigung, zur Vernichtung. «Dschingis-Khan mit Telegraphen», wie Alexander Herzen einmal sagte, das heißt Anwendung und Ausnützung der Kulturmittel zur Stärkung der Barbarei. — Unsere Gesellschaft glich einem Kind, das die Motore eines Autos ausgelöst und nicht zu lenken, nicht zu bremsen versteht. Die Maschine rast, ohne vom Geist gebändigt zu sein, im wahnsinnigen Lauf dahin, alles vernichtend, schließlich selbst zerschellend.

So war unser Leben vor dem Krieg, so kam der Krieg und so diese furchtbare Nachkriegszeit, in der wir jetzt leben. Alles zerschellt. Alles. Russland ist ausgebrannt, jetzt lodert's in Deutschland. Wartet, wartet, bald lodert ihr auch, ihr Sieger da drüben. Auch ihr seid nur Kinder mit Kinderverstand auf der Maschine.

Der Schuss auf Clemenceau zeigt, wie es auch dort unter der militärisch gefesselten Oberfläche brennt. Dass der Verbrecher ein politisches Programm ausführte, glaube ich nicht. Aber die Schusswaffen sitzen jetzt nach diesen viereinhalb Jahren Mordens lose in der Tasche. Die Welt ist entgleist und die entgleisten Geister schieben, wie man es ihnen so lange und so eindringlich gelehrt hat. Sie schießen auf die sichtbaren Ziele. Sie schießen, weil ihr schwacher Geist vom Morden der Menschheit berauscht und entzündet ist.

Der arme Eisner! Ein Mensch von warmem Herzen. Ein Mensch von großen Geistesgaben. Ein Mann, der jahrzehntelang gekämpft hat für Ideale, der für sie gelitten, furchtbar gelitten hat, der eben das Gefängnis verlieb, um sich in den Befreiungskampf zu stürzen. Die Woge des Erfolgs bringt ihn hoch, führt ihn zur Macht. Da kracht der Revolver eines Entgleisten, eines durch die Lüge der Presse und den Miasmengestank der Verfaulenden Aufgehetzten, und dieser edle Kämpfer liegt tot auf der Straße. Acht Tage vorher haben wir ihn hier gesehen, haben wir ihn hier gehört, wie er die Versöhnung anbahnte mit den Vertretern der feindlichen Völker. Er war sicherlich die interessanteste Erscheinung auf dem Kongress der Internationale. Nun liegt er dahingestreckt! Was soll werden, wenn jeder unreife Bursche die Macht über Leben und Tod führender Männer in der Hand hat? — Oh, ihr Verbrecher des Weltkriegs! Ganz Deutschland brennt! Deutschland? — Nein, die Welt. Aber Deutschlands Flammenmeer ist es, das uns am meisten in die Sinne fällt, tiberall Aufruhr. Überall Gewalt. Im Rheinland Kampf und Mord, jetzt in München die blutigste Bewegung. Man weiß noch gar nicht, was dort vorgeht. Nur Gerüchte dringen ans Ohr. Die Sowjetrepublik erklärt! Der Terror!

Und die Verbrecher des Kriegs heben die Stirne und rühren sich, erheben ihr Haupt kecker als je. Traub redet in der Nationalversammlung. Traub, der mordverbissenste Kriegsheber, beschuldigt die andern! Traub, der einstens, in den Tagen des Siegs, seine Landsleute aufgefordert hat, kein Mitleid mit dem Feind zu haben, es sei das jetzt unchristlich und unpatriotisch, weint jetzt über das Schicksal der deutschen Gefangenen in Frankreich, dessen Härte ja nur er und seine Gesinnungsgenossen verschuldet haben. Ein Traub darf reden im neuen Deutschland! — Und Frau Zieß wird zur Ordnung gerufen in der deutschen republikanischen Nationalversammlung, weil sie — das eiserne Kreuz beleidigt hat. Blutzeichen hat sie es genannt. Und der Präsident der deutschen Nationalversammlung erklärt, das eiserne Kreuz sei das Zeichen der Tapferkeit und des Todesmuts! — Mag sein; aber die neue Zeit soll solche Zeichen verabscheuen, weil sie die Tat verabscheut, die sie verkünden. Man weiß, übrigens auch, dass das eiserne Kreuz zum großen Teil den Strebern, den Hintermännern des Kriegs zufiel, und dass es an Hunderttausende verteilt wurde, um nach dem Krieg dem Militarismus ein mächtiges Kader zu verschaffen. — Ja, das Eiserne Kreuz ist ein Blutzeichen, errichtet zu höherem Ruhm und zur Erhöhung des blutigen Molochs. Und «als Protest gegen die Beschimpfung des Eisernen Kreuzes verlässt der größte Teil der Abgeordneten das Haus». So meldet der Bericht der 12. Sitzung der deutschen Nationalversammlung. Wundert man sich noch, wenn es brennt und gährt und die Rohlinge und Geisteskranken sich zu Richtern über Schicksale machen?