Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bernburg, 2. September.

Hier in der kleinen Stadt fühlt man den Odem des Krieges stärker als in der Grosstadt. Die Familien kennen sich und verfolgen gegenseitig die Schicksale ihrer Angehörigen im Felde. Man sieht die Lücken, die der Krieg reisst und kennt die Gefallenen und Verwundeten. Trotzdem keine Verzagtheit und kein Hadern mit dem Schicksal. Man nimmt den Krieg als Fatum hin, als Notwendigkeit. Hier sehe ich so deutlich wie die Presse die Meinungen beherrscht. Alle Zeitungsklischees, die ich kenne, finde ich in den Äusserungen der Menschen wieder, die mir begegnen. Die Möglichkeit, sich in den Geist und den Gemütszustand der andern zu versetzen, fehlt vollständig. Für alles, was die Deutschen tun, gibt es eine Entschuldigung, für die gleichen Handlungen der Gegner lässt man nur niederträchtige Motive zu. Die Vernichtung der ostpreussischen Ortschaften durch die Russen findet man bestialisch, die Vernichtung belgischer Städte, die für die Kultur vielleicht doch etwas mehr bedeuten als die östlichen Ansiedelungen in Preussen, erscheint durch die Kriegsraison wohlbegründet. Das Bombenwerfen der französischen Flieger über «offene» deutsche Städte wird als unerhörte Barbarei bezeichnet, der erste deutsche Flieger über Paris wird mit jubelndem Halloh begrüsst. Völlige Unfähigkeit, die Motive und Anschauungen der andern nur zu erfassen.

Interessant ist der Unterschied der Gefühle gegen die verschiedenen Feinde. Feindschaft ist gegen alle vorhanden, Hass und Erbitterung nur gegen die Engländer. Man merkt hier, dass das Gefühl, die Engländer seien doch überlegene Gegner, Hass erzeugt. Gewisse Zeitungen wirken zersetzend, sie pflanzen in den Köpfen und Herzen eine Gesinnung ein, die nachhaltig wirken muss und für das deutsche Volk sicherlich keine Kulturerrungenschaft bedeutet. Noch widerlicher und zersetzender wirken die Witzblätter und die in einem Kriege wohl zum erstenmal in Erscheinung tretende Ansichtskartenindustrie. Auch unsere Dichter haben vergessen, dass auch die Gegner Menschen sind, und dass über der Nation die Menschheit steht. Jetzt sind ja alle diese Erscheinungen begreiflich. Der Krieg bildet zurück zur Bestialität, und militärische Operationen sind ohne das starke Hass- und Vernichtungsgefühl gar nicht denkbar. Der schärfste Dolch kann nicht stechen, wenn ihn nicht ein muskulöser Arm kraftvoll führt. Das beste Heer könnte nicht wirken, wenn nicht der sogenannte «kriegerische Geist» ihm Stosskraft verliehe. Aber nur liegt die Gefahr nahe, dass dieser Geist auch nach dem Kriege bestehen bleibt und jene furchtbare Dissonanz erzeugen wird, die zwischen dem internationalen wirtschaftlichen Zusammenhang der Welt und ihm besteht. Der Siegerstaat wird der Verständigungsidee eine starke Ablehnung entgegenbringen. Diese wird bestärkt werden durch die Heimkehrenden, die vom Ruhme berauscht, von dem Glück betäubt, dass sie aus dem grossen Mord mit heiler Haut davon gekommen sind, die Schrecken des Krieges vergessen zu machen suchen werden. Sie — die Überlebenden — werden die Schönheit und Grösse des Krieges preisen. Die dem Elend des Krieges zum Opfer Gefallenen können ja niemals ihre Stimme erheben.

Aber all diese Erwägungen können mich in der Überzeugung nicht wankend machen, dass dem Pazifismus eine grosse heilige Aufgabe zufallen wird: die Pflicht, die Menschheit durch die Fieberschauer des Hasses hindurch zur Vernunft zu führen. Eine undankbare Pflicht; denn wir älteren, die wir fast ein Menschenalter an der Arbeit sind, werden vielleicht den Sieg nie sehen. Aber ihn vorbereiten, das Kleinod der Kultur den kommenden Generationen zu überliefern, ist trotzdem unsere Aufgabe. Diese schreckliche Zeit — andere werden sie die «grosse» nennen — ruft uns mit ehern-ernster Stimme zu: «Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben, bewahret sie!»

Heute ist Sedantag. Er wird nicht festlich begangen. Kränze werden auf die Siegesdenkmäler und die Gräber der Gefallenen niedergelegt. Abends sollen Choräle geblasen und gesungen werden. Wie hofften wir, dass wir nun am Ende dieser Schlachtenfeiern angelangt sein werden. Die Kraft der Begeisterung war schon im Erlöschen. Nun kommen die neuen Festtage der Gewalt. Ob ein siegreiches Deutschland die hohe Aufgabe erkennen wird, die Verständigung der Kulturvölker zu festigen und demgemäss Abstand von Festen nehmen wird, die unweigerlich das Leid der andern bedeuten müssen? — Vielleicht! Vielleicht wird der grossen Vornahme, die die Parteien- und Konfessionsunterschiede als begraben erklärte, auch die Vornahme folgen, wenigstens den Hass der Nationen zu beseitigen! Nichts leichter als das, wo man doch nach dem Krieg mit Recht wird darlegen können, dass es nicht die Völker waren, die diesen Weltbrand herbeigeführt haben, sondern einige Intriganten, die die Macht über sie besassen. Eine kluge Politik wird den Frieden nach diesem Krieg von einem Waffenstillstand zu einem wirklichen Weltverband gestalten. Dass dem so werde, wird die pazifistische Bewegung ihre ganze Kraft entfalten müssen.