Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

26. September 1914.

Über die Fortschritte auf den Schlachtfeldern herrscht beängstigende Stille. Weder vom Westen noch vom Osten oder Süden wird etwas berichtet. Und doch muss viel vorgehen. Die Zeitungen ergehen sich in Detailschilderungen, berichten aber nichts. Die Wiener Presse, mit Ausnahme der «Arbeiterzeitung» versagt vollständig. Das intelligentere Publikum gewöhnt sich an die Berliner Blätter und fängt in einem erfreulichen Masse an, einzusehen, auf welch niedriger Stufe unsere führenden Zeitungen stehen. Das kann für die Zukunft einen günstigen Wandel bringen. — «Zukunft», das ist ein Wort, das man nicht ohne Schrecken ausspricht. Es ist etwas so ausser aller Berechnung liegendes darin. Und das Fürchterliche ist, dass der Schwerpunkt unseres Seins in dieser nebelhaften Zukunft liegt, da uns die Gegenwart so gar keinen Halt bietet. Egon schrieb gestern eine Postkarte aus Przemysl und bemerkte dazu, dass es die letzte für lange Zeit sei. Wahrscheinlich wird die Festung zerniert. Dieser Aufenthalt in einer belagerten Festung dürfte kein angenehmes Erlebnis werden.

Quidde schickt aus dem Haag ein Rundschreiben, das den gesamten Rat des Berner Bureaus einberuft, an Stelle des ursprünglich geplanten Direktionskomitees, eventuell in Verbindung mit Vertretern der «Conciliation internationale», «Interparlamentarischen Union» und der «International Law Association». Er sendet auch gleichzeitig praktische Anregungen mit. Es ist zu hoffen, dass diese Anregung auf fruchtbaren Boden fällt, denn es muss etwas geschehen, um die pazifistischen Organisationen am Leben zu erhalten. Leider schreibt Quidde unerfreuliches über Lafontaine, der in begreiflicher Erbitterung sich befindet. Er habe das «pazifistische Gleichgewicht verloren».

Der Lärm um die Beschädigung der Kathedrale von Reims erfüllt die ganze Welt. So traurig der Anlass ist, dennoch wieder ein Beweis des Weltzusammenhangs. Die Deutschen haben in dieser Beziehung wirklich beklagenswertes Pech. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass die Zerstörung dieses Denkmals in keinem Lande mehr bedauert wird als in Deutschland selbst. Auch soll feststehen, dass die Franzosen selbst die Beschiessung verschuldet haben, als sie auf dem Turm einen Auslugposten errichteten und ihre Artillerie so postierten, dass sie gerade durch die Kathedrale gedeckt schien. Sie zwangen die Deutschen zur Beschiessung. (Ob es möglich gewesen wäre, durch einen Parlamentär die Franzosen darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Kathedrale in Gefahr bringen, entzieht sich meinem Urteil). Aber trotz aller Rechtfertigung ist die moralische Schädigung in der Welt draussen nicht abzuleugnen. Wie wird das alles wieder gut zu machen sein?

Es ist ein verfehltes Unternehmen, wie es jetzt in deutschen Blättern geschieht, die deutschen Repressiv-Massnahmen durch den Hinweis auf jene Greuel abschwächen zu wollen, die die Engländer in Südafrika, in Ägypten, in Indien begangen haben. Erstens hat man diese Greuel in Deutschland auch verurteilt, verurteilt man sie noch; zweitens macht der Europäer — ob mit Recht oder Unrecht — einen Unterschied zwischen sich und den Bewohnern nicht ganz zivilisierter Länder. Er wendet ein, dass das, was den Fellachen Recht ist, den Belgiern nicht billig zu sein braucht. Dieser Gedankengang herrscht, und es muss ihm Rechnung getragen werden. Vollends geht es aber nicht an, eigene Handlungen durch Handlungen anderer entschuldigen zu wollen. Die Lumpenmaxime eines anderen macht mich noch nicht zum Ehrenmann, wenn ich ebenso handle wie jener. Es wird also genügen, ja, es wird mehr als das, wenn die Deutschen ihre Härte mit dem eisernen Zwang der Kriegslage rechtfertigen und die Schuld auf jene Einrichtung ablenken, die der alleinige Verbrecher ist, auf den Krieg!