Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. Juni.

Nun ist auch Deutsch-Österreich vor die Schranken des Siegergerichts gestellt worden. Als Überbleibsel des alten Gewaltstaates, als Rahmen des einst führenden und bedrückenden Volkes des Habsburger Familienbetriebes wurde es als Erbe dieses Staats betrachtet und zu den Lasten der Niederlage verurteilt. Noch kennt man nicht das Ganze des Urteils, aber das gestern Bekanntgegebene genügt, um zu erkennen, dass es sich auch hier nicht um ein Friedenswerk handelt, sondern um ein Aufspießen mit den Hörnern eines wild gewordenen Stieres.

Von den zwölf Millionen Deutschen, die im alten Donaureich wohnten, sind sechs Millionen Deutsch-Österreich geblieben. Die anderen sind zur höheren Ehre des Völkerbundes den militärischen und nationalistischen Begierden Italiens und der Slaven geopfert worden. Ein Vierteldutzend Elsaß-Lothringen sind hier geschaffen worden. Die urdeutschesten Gebiete des ganzen deutschen Sprachgebiets, die ihre Nationalität am fühlbarsten entwickelt hatten, weil sie sich stets im nationalen Kampf befanden, sind jenen Nationalitäten unterworfen worden, denen gegenüber sie früher als Herren aufgetreten waren, und nicht als milde Herren. Wie soll das zu Ordnung und Sicherheit führen.

Doch die Friedensmacher sind gerecht. Sie garantieren den Deutsch-Österreichern einen freien Ausweg zur See. Sie sind klüger und gerechter als die Ährenthals und Berchtolds, die das kleine Serbien vom Meer abschließen wollten. Man rächt sich edel in St. Germain. Den Deutsch-Österreichern ist der Weg offen gelassen zu einer Stelle, wo sie sich ersäufen können. Zu anderm wird ihnen der Weg kaum etwas nutzen.

Etwas ist in diesem Vertrag enthalten, das mit Worten nicht ausgedrückt ist: dass der Weg nach Großdeutschland beschritten werden muss. Auch wenn er nicht gestattet ist; denn bevor die sechs Millionen zum Selbstmord schreiten, der ihnen gnädigst gegönnt ist, werden sie versuchen, den Weg zur Rettung einzuschlagen. Der Selbsterhaltungstrieb wird sie, über alle Artikel des Friedensdiktats hinweg, hinüberziehen zu den anderen sechzig Millionen. Dazu bedarf es keiner Liebe für das Preußentum. Die ist nicht vorhanden. Aber in der Not des Daseins lebt man lieber mit jenen zusammen, die die eigene Not und eigene Sprache verstehen.

Es war ein historischer Moment, dieses Begräbnis in St. Germain. Eine Großmacht, die in der Weltgeschichte durch Jahrhunderte mitgewirkt hat, wurde begraben, nachdem sie schon sieben Monate tot ist. Ob jemand geweint hat? Niemand weint diesem unzeitgemäßen Staat mehr eine Träne nach. Er hätte gerettet werden können, wenn in die käsigen Gehirne, die den Staat regierten, noch Vernunft einzublasen möglich gewesen wäre. Der alte Herrenbesitz hätte in einen modernen Völkerstaat umgewandelt werden können. Noch heute vor einem Jahr wäre es möglich gewesen. Wie oft wurde in diesen Aufzeichnungen der Weg zur Reifung gezeigt, der Warnruf ausgestoßen. Deutschland, so schrieb ich, kann den Krieg verlieren, aber es wird bestehen bleiben. Österreich hört auf zu sein, wenn Deutschland den Krieg verliert. Es ist nicht klug, sich für alldeutsche Gehirnexkremente einzusetzen. Damit wurde man zum Hochverräter gestempelt.

Nun ist es tot, das alte Österreich.

Auch hier wird neues Leben aus den Ruinen blühen. Nur Deutsch-Österreich wird für immer verdammt sein, weil es die Ehre hatte, der «Familie» als Sitz gedient zu haben, und weil es die größten Idioten des Erdballs besaß, die Habsburger Alldeutschen, die sich den Hab aller anderen Völker zugezogen haben. Auch sie sind in St. Germain erschlagen worden. Aber wir mit ihnen.