Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 30. April.

Mit heute tritt der Krieg in das letzte Viertel des dritten Jahres. Noch 13 Wochen und das 3. Kriegs Jahr ist überschritten. Starke Hoffnungen sind darauf gesetzt, dass innerhalb dieser folgenden Wochen das Ende des Wirrsals gefunden werde. Ich sehe es nicht; so sehr ich es wünsche, mich zu täuschen. Zu große Fehler wurden begangen. Der Beitritt Amerikas zur Entente, den unsere Militärs in ihrer angeborenen Begrenztsichtigkeit als eine nicht in Betracht kommende Einwirkung ansahen, hat dort das größte Kriegshindernis, die Müdigkeit der Massen zu besiegen vermocht. Und in den Zentralstaaten hat man noch immer nicht erkannt, wodurch dieser große moralische Faktor zu überwinden und in den Dienst der Kriegsbeendigung zu setzen wäre. Es handelt sich gar nicht in erster Linie um Annexion oder um den Verzicht darauf, der in Österreich-Ungarn ziemlich deutlich ausgesprochen, in Deutschland als Möglichkeit angedeutet wurde. Das schlagende Wetter, das die Felsen hinwegschleudern würde, die den Weg zum Frieden verrammeln, könnte nur erzeugt werden durch Aufstellung eines pazifistischen Zukunftsprogramms seitens der Zentralmächte und durch Zeitigung solcher Verhältnisse im Innern, die eine Garantie für die ehrliche Durchführung jenes Programms böten. Wollte man das pazifistische Programm der Wilson-Botschaft vom 22. Januar anerkennen, wir könnten Amerika entwaffnen, den Frieden in wenigen Wochen schließen. Davon scheint man aber noch sehr weit entfernt zu sein. Der Pazifismus ist den leitenden Personen der Zentralmächte noch immer Humbug. Dieser irrigen Auffassung verdanken wir den Krieg, verdanken wir jetzt seine vernichtende Endlosigkeit. Glaubt an uns! Und wir können euch retten!

Aber man glaubt doch noch immer an die Gewalt, man bewahrt noch immer diesem falschen Götzen die Treue. Man jubelt auch heute noch über die Unfehlbarkeit des verschärften Unterseebootkriegs, der «alle auf ihn gesetzten Erwartungen» übertreffen soll, und vergisst, dass dieses Unternehmen morgen drei Monate alt ist. Hat man uns nicht in tausend Reden und Artikeln gesagt, dass dieses Vorgehen uns den Frieden nähere, in drei Monaten England auf die Knie zwingen werde? Die drei Monate sind um! Von einer Kriegsverkürzung ist nicht mehr die Rede, und der bundesgenössische Minister Radoslawow hat kürzlich die Wahrheit gesagt, als er einem Ausfrager erklärte, dass der Krieg durch den Eintritt Amerikas in die Länge gezogen werde. Der Eintritt Amerikas ist aber die Folge des Unterseebootkriegs. Wahrhaftig, die Götzen der Gewalt sollten endlich erkannt werden!

Zwei Reden beschäftigten sich gestern mit dem Unterseebootkrieg und seiner Wirkung. Im Hauptausschuss des Reichstags sprach Staatssekretär Helfferich darüber. Die Erwartungen sind übertroffen, Englands Vorbereitungen kämen zu spät zur Wirkung. Und bei einem Bankett in der City sprach Lloyd George von den Maßnahmen, die er getroffen und von den Wirkungen, die er erwartet. Dabei sprach er vom Jahre 1918 als wie von einer Tatsache, dass der Krieg auch im vierten Jahr weiter gehen würde. Der eine Staatsmann sprach optimistisch über das Gelingen des Unterseebootkriegs, der andere optimistisch über dessen Misslingen. Es wird gewiss sehr interessant sein, zu sehen, wer von ihnen recht hat; aber die blutenden Völker haben wahrhaftig keine Zeit mehr, sich aufregenden Wettspielen hinzugeben. Es muss etwas Übermenschliches geschehen, etwas jenseits der Gewalt Liegendes, das das Ende bringt, nicht erst 1918 oder 1919, sondern jetzt. Zum erstenmal taucht in den Erörterungen der Gedanke an eine neue, an die vierte Überwinterung des Kriegs auf. Erst leise, zaghaft, noch als Irrsinn betrachtet. Dieser Irrsinn verdichtet sich allmählich und kann im Oktober Gewissheit, dann Tatsache sein. Ein viertes Kriegsjahr in Sicht! Betrachten wir uns doch einmal die Januarbotschaft Wilsons, die den Frieden ohne Sieg predigt, die den Pazifismus als Grundlage der künftigen Welt fordert. Wäre die Ersparnis von Menschen und Milliarden nicht wert, noch einmal über diese Botschaft nachzudenken, zu suchen, sie in ihrer Größe und Ehrlichkeit zu erkennen, statt danach zu trachten, ihren Urheber im Kriegsjargon als Schwindler und Heuchler zu diskreditieren.

Noch Krieg in 1918 oder Friede im Juni. Wir haben die Wahl, und wir haben keine andere Wahl!