Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. Januar.

Die Umrisse dessen, was kommen soll, beginnen sich abzuzeichnen. Die Engländer sperren die Nordsee von der holländischen bis weit hinauf zur dänischen Küste mit Minen, um den deutschen Unterseebooten dort die Operationsbasis zu stören. Aus Norwegen kommt eine Meldung, dass Deutschland binnen kurzem die britischen Inseln als vollständig blockiert erklären werde. Die Aufnahme des Unterseebootkriegs in vollem Umfang scheint daher unmittelbar bevorzustehen. Es drängen die militärischen Kräfte allenthalben zur Fortsetzung und Verschärfung des Kriegs, in dem Irrwahn befangen, dass dies eine Entscheidung bringen könnte. Ich sehe darin nur eine verstärkte Vernichtung, die zu vermeiden wäre. Wie Ertrinkende auf einem Wrack stehen wir Gegner der Fortsetzung des Kriegs und lugen nach einem rettenden Zeichen aus.

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Die altbewährte Methode, einen Jeden, der zur Vernunft mahnt und der es unternimmt, der Menschheit die Heilsbotschaft des Pazifismus zu lehren, des hinterhältigen eignen Interesses und perfider Nebenabsichten zu bezichtigen, wird natürlich auch Wilson gegenüber angewendet. Georg Bernhard vertritt in der «Vossischen Zeitung» die Ansicht, dass hinter Wilsons Idealismus eine ganz derbe realistische Politik stecke, die dahin gehe, eine möglichst schnelle Herbeiführung des Friedens «zu erpressen» (ich zitiere nach dem Telegramm der «Neuen Zürcher Zeitung» in der Nummer vom 30. Januar), damit England als Selbstschuldner und als Garant für die riesenhaften Schulden der übrigen Ententestaaten gegenüber Amerika kaufmännisch gut bleibe (!!!). Denn — so heisst es weiter — bei einer Fortsetzung des Kriegs können die Mittelmächte siegen, England schwächen und in die Lage kommen, den besiegten Staaten Entschädigungen aufzuladen. Deshalb wolle Wilson bald den Frieden um jeden Preis zur Sicherung der amerikanischen Milliardenforderungen. (!!) — Was die angeregte Friedensliga betreffe, so solle sie einen Schutz Amerikas gegen die heraufziehende japanische Gefahr bilden. Amerika müsste dagegen rüsten und würde neben der Beschaffung einer starken Kriegsflotte bei einem japanischen Krieg wahrscheinlich auch bald dem Militarismus zu Land verfallen. Aber Amerika will sich den Vorteil, ein nichtmilitärischer Staat zu bleiben, weiter erhalten. Dazu wäre der beste Weg, durch die geplante Friedensliga, die ganze Welt als Hilfstruppen gegen Japan zu haben usw.

Das ist die verwerfliche alldeutsche Methode, durch tiftelnde Verdrehungen, durch Andichten einer gemeinen Gesinnung bei Schuldigbleiben jedes Beweises die Regungen der Vernunft zu diskreditieren und einem urteilslosen Publikum als Gefahren erscheinen zu lassen. So hat man in Deutschland vor dem Krieg alle Versuche, zu einer vernünftigen Neugestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu gelangen, zur Ohnmacht verdammt, hat man dafür gesorgt, dass jene gefährliche Anarchie sich verstärke, die letzten Endes zu dem gegenwärtigen Blutbad geführt hat. Nach dieser unerhört gewissenlosen und perfiden Methode hat man nach aussen Deutschland als Friedensstörer und Kriegswoller erscheinen lassen, und jene gefährliche Stimmung in der Welt erzeugt, die das deutsche Volk jetzt mit über einer Million Leichen, drei Millionen Krüppel, 120 Milliarden Schulden und den noch kaum geahnten Folgen dieser Errungenschaften bezahlen wird müssen.

Hat man etwas Törichteres je gehört als diese Erklärung der Wilson’schen Motive. Das ist die Geschichtsmethode des «Maiin» und des Lord Northcliffe, die hier an bedauernswerten deutschen Opfern angewendet wird. Es wäre doch so leicht, sich über den Umfang, das Alter und die Ehrlichkeit des amerikanischen Pazifismus zu überzeugen, so leicht aus den bisherigen Handlungen des Präsidenten Wilson die Motive seines gegenwärtigen Vorgehens zu erklären. Aber ein Eingehen auf die Wirklichkeit könnte die Absichten des Herrn Bernhard stören. Er hat nämlich auch Motive, und diese sind der Art, wie er sie dem Präsidenten Wilson unterschiebt. Er will für Deutschland eine Kriegsentschädigung von etwa 50—100 Milliarden. Und darum passt ihm der Wilson’sche Vorschlag nicht, darum schmeißt er das ganze Rettungswerk für die Menschheit zum Teufel. Was schadet’s; es ist doch Patriotismus!

Hätte Wilson seine Friedensbotschaft vor seiner Wiederwahl in die Welt gesetzt, so wäre sie mit dem beliebten Einwand abgetan worden, sie sei ein Wahlmanöver. Da die Wahl vorüber ist, müssen ihr andere Motive unterlegt werden. Eine eigentümliche Beleuchtung erhält die Bernhard'sche Motivierung durch eine Depesche aus Washington vom 28. Januar, die ich eben in den Zeitungen lese. Danach ist dort der bekannte Friedenspolitiker Elihu Root in einer grossen Versammlung der Liga für nationale Sicherheit für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht eingetreten, indem er ausführte, dass eine Liga zur Friedenssicherung zwecklos wäre, wenn sie nicht die Macht hinter sich hätte, um den Frieden durchzusetzen. Nicholas Murray Butler John Hays Hammond und der Richter Parker haben in einer Erklärung die Forderung Roots unterstützt.