Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 11. September.

Gertrud Bäumer schreibt in ihrer «Heimatchronik» unterm 4. September («Hilfe» 9. September): «Ich bekomme die amerikanische Zeitschrift «The Survey» mit einem Bericht einer Amerikanerin über die Friedensreise zu den Regierungen nach dem Haager Frauenkongress. Sehr instruktiv für die pazifistische Betrachtungsweise: wer gegen den Krieg ist, ist edel, und die ganze moralische Riesenleistung des Vaterlandsdienstes bis zum Tod gilt für nichts». — Ich bin Fräulein Bäumer sehr dankbar für diese Worte. Sie gaben mir Veranlassung, den Artikel der Jane Addams in «The Survey» (vom 17. Juli), den ich ungelesen ad acta gelegt hatte, wieder hervorzuholen und nachzulesen. Ich war aufs tiefste berührt von diesem Artikel, von den interessanten Mitteilungen, die er enthält und von der hohen Weisheit und Vernunft, die ihn beseelen. Dass die «moralische Riesenleistung des Vaterlandsdienstes» dieser Frau nichts gilt, davon ist keine Rede in ihrer Arbeit. Sie spricht nicht davon, weil sie über etwas ganz anderes spricht. Lieber das Weh des Kriegs, den keiner wollte und über dessen Beendigung, die jeder will und keiner herbeizuführen weiss. Warum soll der Verfasserin etwas vorgeworfen werden, was sie zu behandeln nicht die Absicht hatte, während soviel hervorzuheben gewesen wäre von dem, was sie wirklich behandelte. Warum nicht z. B., dass eine der leitenden und bekannten Persönlichkeiten Europas ihr gesagt hat, dass dieser Krieg unmöglich geworden wäre, wenn es gelungen wäre, ihn noch zehn bis zwanzig Jahre zu vertagen? Warum nicht, dass die Verfasserin diesen Krieg einen «Altmänner-Krieg» nennt, weil er nur von den Männern einer alten absterbenden Weltanschauung beschlossen werden konnte, während die Jugend, die ihn führen muss, ihn nicht gewollt habe. Warum hätte sich nicht gelohnt, anzuführen, wie Jane Addams das Verhältnis der Frau zum Krieg mit der Situation eines Künstlers vergleicht, der als Artillerist berufen wäre, die Markuskirche oder den Florentiner Dom zu beschiessen. Wie dieser Künstler darüber mehr Reue empfinden müsse, «als ein Mann, der niemals selbst Schönheit geschaffen und nichts von ihrem Wert weiss», so muss die Frau, die das Kind geboren und erzogen hat, von der Vernichtung seines herangereiften Lebens tiefer verletzt werden. Ihr Hinweis, dass die Kriegswut zumeist gesteigert werde durch die Dinge, die der Krieg selbst erzeugt hat, und dass so der Krieg den Krieg verlängert, ihre weise Bemerkung, dass der Glaube, der Militarismus könnte jemals durch einen Gegen-Militarismus niedergeworfen werden, «die grösste Illusion ist, die jemals den Menschengeist erfasst habe», ihre Erzählung von dem europäischen Minister eines der kriegführenden Staaten, den sie nach der Darlegung des Zweckes ihrer Mission, nach der er schweigend verharrte, schüchtern gefragt hat, «das kommt Ihnen wohl närrisch vor», und der mit der Faust auf den Tisch schlagend, erwiderte: «Närrisch? Durchaus nicht! Das sind die ersten verständigen Worte, die seit zehn Monaten in diesem Zimmer geäussert wurden».

Und wieviel anderes wäre noch aus jenem Artikel anzuführen gewesen. Nur das nicht, was Gertrud Bäumer daraus angeführt hat. Ihre Nutzanwendung «Wer gegen den Krieg ist, ist edel», kann unmöglich das Ergebnis der Lektüre jenes Artikels sein. Dazu gibt er nicht den geringsten Anlass. Das ist lediglich die Plattheit, die man in der Regel dem Pazifismus zuschreibt, die man aber durch nichts beweisen kann. Mit solchen Phrasen besprechen General-Anzeiger-Redakteure pazifistische Bücher, von denen sie nur das Titelblatt gelesen haben. Wo ist der Dummkopf, der sich hinsetzt und schreiben würde, «wer gegen den Krieg ist, ist edel, wer dafür ist, bösartig»? So einfach liegt das Problem doch nicht, und man sollte es füglich unterlassen, diese bei Ungebildeten verbreitete Traumbuch-Auffassung des Pazifismus mit solchen Bemerkungen aus dem 50 Pfennig-Bazar der Geister zu unterstützen. Die Zeit ist vorüber, wo man wagen durfte, über den Ernst dieser Frage zu witzeln. Heute stinkt unsere Welt durch den Krieg, und an der Arbeit, die diese Ungeheuerlichkeit beseitigen will, sollte man sich nicht mehr vergehen!