Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Oktober.

Aus einem Wiener Brief. Mein Freund Charmatz schreibt mir:

«Oft denke ich jetzt an das, was ich vor drei Jahren schon sagte Deine Saat wächst. Die Menschen brauchten vielleicht die schauerlichen Lehrjahre des Kriegs, um vernünftiger denken zu lernen, so fern sie als Masse überhaupt fähig sind, ihr Leben denkend zu leben. Ich bin nach dieser Richtung skeptisch, denn ich habe seit mehr als drei Jahren zu viel gesehen und zu viele schmerzliche Eindrücke empfangen. Ein Werk, wie die zwischenstaatliche Organisation, die ja jetzt auch das Ziel des österreichisch-ungarischen Ministers des Äußern bildet — wenigstens hat er es öffentlich erklärt — konnte nicht durch die Propaganda einzelner idealistischer Realisten geschaffen werden. Wie denn Werke von Bedeutung überhaupt nur entstehen, auf festen Grundlagen zustande kommen, wenn die eherne Notwendigkeit sie zwingt. Den Menschen zu sagen, daß die Staatengemeinschaft notwendig sei, war löblich, aber es mußte erfolglos bleiben. Denn es ist keinem Irdischen möglich, sich über die Trägheit der Masse, über die Einsichtslosigkeit und Ahnungslosigkeit der Zeitgenossen hinwegzusetzen und diese gleichzeitig mit sich zu reizen. Der Weltkrieg hat Dir selbstverständlich Recht gegeben. Ihm werden nun viele glauben, was sie Dir nimmermehr geglaubt hätten . . .»

Das ist jedenfalls ein Symptom einer dennoch umgewandelten Mentalität, denn mein Freund Charmatz gehörte unsrer Bewegung gegenüber zu den stärksten Skeptikern. Sein Zugeständnis ist umso wertvoller als er Historiker ist. Aber seine Theorie von der Ohnmacht unsrer Arbeit bedarf der Korrektur. Zunächst handelte es sich bei der pazifistischen Bewegung längst nicht mehr um Ideale. Dass zwei mal zwei vier ist, ist kein Ideal sondern eine Erkenntnis. Wenn diese Erkenntnis nicht zum Sieg gekommen, lag das weniger an der Masse, die ihr wirklich nicht mehr so fern stand als man glaubt, sondern an der Trägheit und an dem Egoismus der Führenden. Sie trifft die ungeheure Schuld, dass dem Krieg jetzt geglaubt wird, was man uns nicht geglaubt. Und diese Schuld ist wahrlich nicht gering. Sie ist umso größer als sich ja in andern Ländern die Wahrheit unsrer Lehre bereits durchgesetzt hatte, und dort die Führer der Völker bis in die höchsten Regierungskreise hinauf sie bereits erkannten. Das Verkennen kann daher nicht als ein allgemeines Gesetz angesehen werden, sonder vielmehr als eine durch örtliche Verhältnisse begründete Unvollkommenheit. Man war unter jenen örtlichen Verhältnissen zu sehr vom Machtgedanken umnebelt, als dass man den klaren Blick für die Erfordernisse einer neuen Zeit gewinnen konnte. Unsre Ohnmacht lag nicht an einer gleichsam gesetzmäßigen Eigenschaft der Idee als an der unverzeihlichen Sorglosigkeit und Gleichgiltigkeit der Machtfaktoren. Im übrigen hätte es genügt, den Krieg nur noch um ein Jahrzehnt, um ein halbes vielleicht, zu vertagen, die Idee hätte die Gegner besiegt, denn man fing bereits an, uns zu glauben, und der Friedenswille der Masse hätte sich schon zu einem empfindlichen Druck zusammengeballt.

Aber so wenig die in versteinerter Routine befangen gewesenen Machtfaktoren vor dem Krieg sich der pazifistischen Vernunft zugänglich erwiesen, ebensowenig erscheinen sie dieser jetzt während des Kriegs zugänglich. Deshalb finden sie kein Mittel, um ihn zu Ende zu führen, und setzen ihn fruchtlos bei stets wachsender Vernichtung fort. Der Krieg wird nur mehr um des Kriegs willen, vom Gesichtspunkt der militärischen Bravour ausgeführt. Welch andern Wert hat diese opferreiche Offensive gegen Italien? Glaubt man wirklich, dass sie den Frieden beschleunigen wird? Sie hat keinen andern Zweck als den der Stimmungsmache, keinen andern als die Frondiergelüste der österreichischen Politik fester in das Joch der preußisch-deutschen Ideen zu spannen. Sie kostet unerhörte Opfer und wird nichts bezwecken. Denn was könnte selbst ein siegreicher Einfall in Oberitalien als Friedenswert bedeuten? Wollen die deutschen Machthaber, die Österreich-Ungarns kühle Kritik gegenüber der elsaß-lothringischen Romantik unangenehm empfinden, nicht etwa bei den Österreichern selbst die Romantik für die verlornen Provinzen Venezien und Lombardei erwecken? Kann das zum Frieden führen? Führt es nicht vielmehr immer tiefer in den Abgrund?

Die Massenopfer gegen Italien, das in zweijährigen Kämpfen über die Karstberge nicht hinwegkam, haben gar keinen Zweck. Verteidigung war das legitime Mittel, und dieses hat sich vollständig bewährt. Wozu kann der Angriff anders dienen als zur Stärkung der militärischen Gewalten im Reich. Die Phantasien der errungenen Demokratie, der Parlamentsherrschaft und der Ministei -Verantwortlichkeit zerstieben am Isonzo. Der von der Mehrheit des Reichstags abgelehnte Stellvertreter des Generalstabs beim Reichstag bleibt, und wenn die Offensive ihren siegreichen Fortgang nimmt, dann wird er allerdings verschwinden, aber nur um den Generalstab direkt zur Leitung der Politik Platz zu machen. Das ist Krieg um des Kriegs willen!