Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 25. April.

Interessanten Brief von David Starr Jordan erhalten. Datiert Stanford Universität, Kalifornien. Daraus einige Stellen:

«Die Ursachen des gegenwärtigen Kriegs finde ich darin, dass Militarismus gegen Militarismus stand. Unter ,Militarismus’ verstehe ich die Anschauung, die die Macht über das Gesetz stellt. Beherrscht eine solche Denkungsart ein Volk, so ist der Krieg unvermeidlich. Krieg aber ist nichts als die Aufhebung alles Gesetzes, die Verneinung aller Gerechtigkeit. Militärische Rivalität führt mit Naturnotwendigkeit zum Krieg. Ich vermag daher nicht einzusehen wie man Gesetzlosigkeit durch Gesetzlosigkeit unterdrücken, oder Militarismus durch Militarismus austreiben will. Erst wenn die Völker der Erde gelernt haben werden, den Verkehr untereinander nach den selben sittlichen Gesetzen zu regeln, nach denen jedes Volk das Verhältnis der eignen Staatsbürger regelt, erst wenn sich die Staaten, ob nun gross oder klein, als gleichberechtigt annehmen, erst dann wird der Militarismus verschwinden. Jedes Volk muss also aus sich selbst heraus den eignen Militarismus überwinden. Das wird langsam gehen. Erst nach dem Krieg wird der wirkliche Kampf gegen den Militarismus in den einzelnen Nationen ausgefochten werden.»

In der nachfolgenden Stelle kommt Jordan zu einer Stellungnahme, die der von Sombart (Händler und Helden) gleicht. Nur dass er zu einem andern Schluss kommt als der deutsche Gelehrte.

«Der Deutsche scheint im Krieg eine Art Gottesurteil zu sehen, er wird von dem Gedanken getragen, dass im Krieg ein höherer Wille der gerechten Sache den Sieg verleihen muss. Für ihn ist der Krieg ein heiliger Krieg, darum trägt die ganze Nation im Frieden wie im Krieg alle Lasten des Kriegs mit solcher Opferwilligkeit, mit der ganzen Hingabe der Person, die in den Religionskriegen vergangener Jahrhunderte zutage trat. Der Engländer denkt viel weniger idealistisch, viel nüchterner. Für ihn hat der Krieg praktischen Wert. Er führt ihn, um dadurch reale Werte zu erreichen. Er geht darum auch nicht selbst in den Krieg, sondern er hat bezahlte Diener dafür, gerade wie wir Polizisten halten zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Sobald der Engländer einsehen wird, dass er seine Zwecke auf andre Weise ebenso gut durchsetzen kann, wird er diese andern Mitteln vorziehen. Der Krieg als solcher hat für ihn keinen besondern Wert, er glaubt nicht an ihn, jedenfalls nicht mit einer solch religiösen leidenschaftlichen Intensität wie der Deutsche.»

Jordan steht über diesen Dingen, während Sombart darin steht. Darum ist dieser für das Heldentum begeistert, nennt er die andre Auffassung verächtlich «Händlertum», während jener, bei aller Objektivität, mit der er die Dinge zu begreifen sucht, deutlich durchleuchten lässt, dass die höhere Vernunft bei jenen liegt, die die Dinge ohne Leidenschaft, kühl berechnend, ins Auge fassen. Ich hoffe, dass dieser Krieg der grosse Lehrmeister sein wird, der von dem deutschen Volk die verderbliche Anschauung über die Heiligkeit des Kriegs wegnehmen wird.

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Es ist sonderbar. Die gesamte zivilisierte Welt raffte sich nach Ausbruch des Weltkriegs zu einem einzigen Schrei auf: Fort mit der geheimen Diplomatie. Alle Untersuchungen über die Ursachen des Kriegs und über die künftige Vermeidung gipfeln in der Forderung nach Öffentlichkeit der diplomatischen Verhandlungen. Und hinter unserm Rücken, nur an dem verursachten Geräusch vernehmbar, spielt sich wieder ein ungeheurer diplomatischer Handel ab, wo um Köpfe und Güter gespielt wird, von dem aber nichts Greifbares an die Öffentlichkeit dringt. Die Situation zwischen Österreich-Ungarn und Italien soll aufs Kritischste sein. Wilde Gerüchte laufen um, aber diejenigen, die es in erster Linie angeht, erfahren nichts. Sie sollen wieder vor eine zwingende Tatsache gestellt werden.