Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. März.

Der Friede mit Rußland wurde gestern unterzeichnet. Die Vertreter der maximalistischen Regierung haben das deutsche Ultimatum bedingungslos angenommen. Gleichzeitig wird von russischer Seite als Protest in die Welt hinaustelegraphiert, dass die russische Delegation, «da sich die deutsche Regierung weigerte, die militärischen Aktionen während der Verhandlungen über die Vertragsbedingungen, die zu einem durch die Gewalt gestützen Ultimatum wurden, einzustellen, die diktierten Vorschläge, ohne Diskussion, unterzeichnet haben». Also ein diktierter Friede mit Landabtrennungen unter dem Druck der Gewalt und unter Protest der Vergewaltigten. Das ist der Friede, den wir Pazifisten nicht meinten, der Friede, der keiner ist, der nur als Waffenstillstand gefristet werden wird mit stets neuer Bedrohung, Feindschaft und Verblutung an Rüstungen. Die Abspannung,' die diesem Krieg folgen muss, und die es verhindern wird, daß sich die Völker bald wieder von Verruchten zum wahnsinnigen Zerfleischen treiben lassen werden, wird nicht der Friede sein. Sobald die Völker Rußlands sich einigermaßen erholt haben werden, wird es den Machthabern gelingen, sie zur Rache aufzurufen.

Bleiben die Revolutionäre an der Macht, dann werden sie es als ihre Lebensbedingung ansehen, sich gegen das reaktionäre Deutschland zu wenden. Kommt es zum Sieg einer Gegenrevolution, dann wird es die Lebensbedingung der neuen Herrschaft sein, das Volk zur Befreiung der verlornen Länderteile aufzurütteln. Das weiß man in Deutschland, und das wird dort den Ansporn bilden, neu zu rüsten, das mit «dem Blut Errungene» zu schützen. Die Völker werden ja mittlerweile vergessen haben, dass man jenes Errungene, das man mit dem Aufwand aller Kräfte wird sichern müssen, dereinst als Sicherung beansprucht hat. Um uns vor künftigen Kriegen zu sichern, forderte man Landangliederungen, und diese Sicherungen werden es sein, die uns dauernd mit Krieg bedrohen und Anstrengungen erforderlich machen werden, um sie zu halten und zu verteidigen. Dieser Wahnsinn entwickelt sich aus der militaristischen Mentalität, die sich anmaßt, Völkergeschichte zu lenken und in Wirklichkeit nichts anderes bewirkt, als dem Militarismus die Existenz zu sichern. Denn nur unter der Aufrechterhaltung einer dauernden Bedrohung bleibt jener Krankheitserscheinung das Dasein gesichert.

Sehr gut hat das jetzt ein ungarischer Schriftsteller dargelegt, der die Angliederung Bessarabiens an Rumänien forderte mit einer Begründung, bei der er übersah, dass sie sich nicht nur auf Rumänien beziehe, sondern Allgemeingültigkeit hat. Es ist der ungarische Universitätsprofessor Michael von Rez, der (laut Basler Nachrichten No. 105) in einem Aufsatz die Bedenken seiner Landsleute gegen jene Angliederung zu zerstreuen sucht. Er folgert: «Russlands Zerklüftung sei eine vorübergehende Erscheinung und seine Lebensfähigkeit und nationale Einheit werde in einigen Jahren wieder hergestellt sein. Das wiederhergestellte, von nationalem Stolz erfüllte Russland werde Rumänien diese Eroberung nie verzeihen. Es wird Rumänien in eine Verteidigungsstellung gegen Russland zwängen und verhindern, dass es sich gegen Österreich-Ungarn wendet und auf einen Angriff gegen Westen sinnt.» Diese Weisheit trifft aber nicht nur auf Rumänien und Russland zu! Auch in dem Verhältnis zwischen dem neu erwachten Russland und Deutschland wird sie sich bewahrheiten. Auch Deutschland wird es von dem neuen Russland nie verziehen werden, dass es fünfzig Millionen seiner Randvölker abgelöst hat.

So ist denn der Tag von Brest-Litowsk mit seinem billigen Militärerfolg ein Unglückstag für das deutsche Volk. Es wird ein Unglückstag für die Menschheit werden, wenn dieser Akt unbesonnener Vergewaltigung, so wie er triumphierend zustande gebracht wurde, bestehen bleiben soll. Dieser Friede ist wahrhaftig das vollendetste Beispiel für die Umwandlung des akuten Kriegs in einen latenten, den man bisher fälschlich Frieden nannte.

Alle Zeichen sprechen dafür, dass die alldeutsch-militaristische Agitation im Reich nun auch auf die Haltung Österreich-Ungarns einen starken Einfluss genommen hat, der den vom Grafen Czemin verkündeten Pazifismus als bedroht, wenn nicht gar als überwunden erscheinen lässt. Schon der plötzliche Umschwung bezüglich des Einmarsches in die Ukraine spricht für diese Annahme. Nun hörte man auch, das Ungarn von Rumänien «Grenzsicherungen» wünscht, und eben lese ich in der «Neuen Zürcher Zeitung» (4. März No. 304) eine Wiener Depesche mit der bedenklichen Meldung, daß in Bessarabien « eine starke Volksbewegung für den Anschluss an Österreich entstanden» ist. — Wie merkwürdig, dass solche Volksbewegungen sich immer einstellen, wenn die Annexionisten sie brauchen. — Bezeichnend war auch die Rede, die der christlich-soziale Parteiführer Dr. Pattai am 28. Februar im österreichischen Herrenhaus hielt. Eine Rede, über die Lammasch nachher sagt, dass sie die «Rede eines Anwalts der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie » gewesen sei. Dr. Pattai will den Siegfrieden mit Annexionen. Er fürchtet sich vor einem Revanchekrieg nicht. Er schloss mit den Worten: «Wir sind die Sieger, und wir verlangen nach der Palme!» Das sind die Ideen einer längst entschwundenen Zeit. Werden sie siegen, werden sie am Leben bleiben, auch dann noch, wenn man den «Siegern» die Rechnung des Sieges präsentieren wird?

Hoffentlich verliert Österreich-Ungarn unter dem Einfluss der alldeutschen Wilden im Reich die Besinnung nicht. Das Volk verhungert und die Hurrapatrioten wollen es mit Quadratkilometern sättigen!

In der selben Sitzung des Herrenhauses eine mutige Rede von Lammasch, der sich gegen Pattai wandte, vor dem «Siegfrieden» warnte, für den die Nationen nicht ihr Herzblut gegeben haben. Prophetisch wies er darauf hin, dass der Krieg noch jahrelang dauern würde, wenn man das Anerbieten Amerikas nicht annehme. Lammasch forderte auch eine Autonomie Elsaß-Lothringens, weil sie uns den Frieden bringen würde. Dies erklärten Fürst Schönburg und Freiherr von Plener als eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands. Schöne «innere Angelegenheit», die Österreich-Ungarn zwei Millionen Menschen kostet! Alte Floskeln einer überwundenen Zeit, die die politischen Dornröschen des Herrenhauses verschlafen haben.