Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 30. Juni.

Viel Gerede über die Wiener Diplomatenkonferenz. Es soll sich um Belgiens Schicksal gehandelt haben, um Separatfrieden mit Russland. Die grösste Wahrscheinlichkeit besitzt doch die Annahme, dass Konzessionen an Rumänien gemacht werden sollen. Was nützt dann der Sieg in Galizien? —

Graf A. A. macht in einem gestern empfangenen Brief eine Bemerkung, die mich eine schlaflose Nacht gekostet hat. «Ob nicht eine Annäherung an Russland für die Zentralmächte zum Gebot der Selbsterhaltung wird». Wenn dies ein Mann sagt, der der Regierung so nahe steht, und der einen tiefen Einblick in die Verhältnisse haben muss, so hat das eine unheimliche Bedeutung. Wenn es wirklich das Ergebnis dieses Krieges sein soll, dass die Zentralmächte eine Annäherung an Russland suchen sollten, an jenes Russland, das uns als der Feind der europäischen Kultur hingestellt wurde, dann beginnt ein Trauerspiel, dessen Ende wir nicht mehr erleben werden.

Die Gefahr, dass solches wird, scheint gross zu sein. Mögen sich die Gegenkräfte, die die Kultur im Westen suchen, sich nicht einlullen lassen. Sonst kommt aus der Geheimküche der Diplomatie eines Tages die fertige Überraschung.

Am 16. Mai habe ich hier die Rechtfertigung der Lusitania-Torpillierung durch den Hungerkrieg Englands gegen Deutschland bekämpft und behauptet, dass es nicht wahr sei, dass Deutschland hungert. Wir brauchen uns dagegen nicht mehr zu wehren. Der famose «Pazifist» in der «Königsberger Hartungschen Zeitung» hat dies als «Verirrung» bezeichnet (ich dächte gar nicht an das Misslingen der neuen Ernte) und die Frage nach dem Grad der Kriegsneurose gestellt, die mich befallen haben muss. Jetzt sagt Naumann in der «Hilfe» (Nr. 15) wörtlich folgendes: «Der Aushungerungskrieg ist vorbei, denn selbst, wenn wir stellenweise eine ungenügende Ernte haben sollten, was leider möglich ist, so stehen andere Gebiete umso besser, und Ungarn steht vortrefflich. Dazu kommt, dass wir jetzt mit der Brotkarte umzugehen gelernt haben und nicht ohne Vorräte aus dem alten in das neue Erntejahr hinübergehen». Der englische Abschliessungsplan, so führt Naumann weiter aus, ist gescheitert. Nicht nur für jetzt, sondern für alle Zeiten. Ich glaube also, dass man den Unterseebootkrieg weiter führen möge, wenn man ihn für angebracht hält, aber man motiviere ihn nicht mehr mit der zur Phrase gewordenen Aushungerungspolitik Englands, wenn diese tatsächlich versagt hat.

Die Fürsorge, wie sie jetzt für die heimkehrenden Krüppel unternommen wird, ist gewiss ein lobenswertes Beginnen. Besonders ist es erfreulich, zu sehen, wie man bestrebt ist, den moralischen Mut der armen Verstümmelten zu heben, ihnen das Gefühl der Minderwertigkeit zu rauben. Aber das Traurige, das in dem Bewusstsein liegt, dass nun Hunderttausende in unserm Volk als Opfer der Politik, die wir Pazifisten anders gemacht haben wollten, herumgehen müssen, kann man dabei nicht überwinden. Es kommt einem so recht bei einem Aufsatz im «Vortrupp» (l. Juli) zu Bewusstsein, der gewiss aus löblichem Bestreben entsprungen ist. Da heisst es an einer Stelle:

«Ein Mensch, der einen Arm oder ein Bein oder gar beide Beine verloren und dessen der Arterhaltung dienenden Organe unversehrt sind, wird nach einer angemessenen Zeit der Ruhe derart wieder zu Kräften gekommen sein, dass er ohne Bedenken heiraten und Kinder zeugen kann. Erworbenes Krüppeltum übt auf die Nachkommenschaft einen bisher nachweisbar schädlichen Einfluss — durch Vererbung — nicht aus. Diese Tatsachen sind für die Zukunft von gewaltiger Tragweite, denn wir stehen vor der Frage, ob auf der einen Seite der wieder gesund gewordene und in seiner ganzen Körperverfassung gekräftigte Kriegskrüppel Zeit seines Lebens unbeweibt bleiben soll und ob auf der andern Seite viele unserer gesunden, kräftigen, schönen Mädchen, ohne die Zweckbestimmung des Weibes erfüllt zu haben, verblühen sollen.

Es wird nicht wenige geben, die mit ehrlichster bester Absicht ausrufen werden: Wie kann man einem gesunden Weibe zumuten, einen Krüppel zu heiraten? Die Antwort ist auch gar nicht so leicht. Die Wissenschaft zwar hat sie gegeben. Unsere Orthopädie ist heute imstande, einen Menschen, der Arm oder Bein verloren hat, wieder arbeits- und erwerbsfähig zu machen, indem sie ihn durch zweckmässige Übungen und zweckmässige Stumpfansätze (sogenannte Prothesen) instand setzt, die verschiedensten Arbeiten auszuführen. Arbeit, Erwerb, Verdienst heben das Selbstbewusstsein des Invaliden; er fühlt sich eines Tages wieder als vollwertiges Glied des ganzen Volkskörpers, und er wird, wenn er sonst nur gesund ist, mit gutem Grund und gutem Recht als Ehekandidat auftreten können. Es kommt nun ganz auf die Frauen und Mädchenwelt an, dass sie die richtige Stellung zu unseren Kriegsversehrten einnehmen lernt. Denn das muss wirklich gelernt werden. Die gewaltige Macht der Liebe wird da das Grösste vermögen. Es gilt zunächst, sich in die Verhältnisse zu schicken, und sich daran zu gewöhnen, dass dieser oder jener Mann keinen Arm oder kein Bein hat».

Oh, «grosse Zeit»! — Daran gewöhnen! — Wir aber, wir möchten ob all dem aufschreien vor Schmerz. Musste das sein?!